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Zur Rechtfertigung ethischer Systeme

13/05/2012

Ich lese zurzeit im Rahmen meines Philosophiestudiums einige metaethische Texte, die sich mit der Frage beschäftigen, ob normative Sätze und präskriptive Urteile, also Aussagen, in denen eine ethische Weisung (Vorschrift, Verbot, Erlaubnis) vorkommt, einen Wahrheitsgehalt in üblichem oder nicht üblichem Sinne haben, und die sich zudem mit der damit in Zusammenhang stehenden Schwierigkeit auseinandersetzen, solche Sätze zu rechtfertigen. Zur Metaethik habe ich auf diesem Blog noch zwei andere Beiträge geschrieben, die ich hier erwähnen möchte, nämlich „Zur Ethik“ und „Zur moralischen Grundlage„. Der erste Artikel beschäftigt sich mit der Unmöglichkeit, aus der Natur selbst eine Ethik abzuleiten, im zweiten habe ich mir überlegt, auf welcher Basiserkenntnis (in erkenntnistheoretisch fundamentalistischem Sinne) man ein ethisches System aufbauen könnte. Heute möchte ich etwas zur Rechtfertigung und Funktion von Normen schreiben.

Es gibt in der Philosophie seit jeher einen Streit darüber, ob ethische Aussagen einen objektiven Wahrheitsgehalt haben. Die Kognitivisten, die das bejahen, stehen dabei den Nonkognitivisten gegenüber, die es verneinen. Die Kognitivisten müssen erklären, woraus sich ethische Urteile objektiv ableiten lassen. Zu ihnen zählen also beispielsweise Naturalisten, die bestreiten, dass ethische Sätze nicht auf die Natur reduzierbar sind, und die Intuitionisten, die sich auf ihre Intuition berufen, um zu ethischen Ideen zu gelangen, und auf ihre Vernunft, um sie objektiv zu rechtfertigen. Zu den Nonkognitivsten zählen unter anderem sogenannte Emotivisten, nach denen das Vertreten und Verlautbaren präskriptiver Urteile nichts anderes ist als ein Ausdruck von Gefühlen und eigener Einstellung. In erster Linie ist der Nonkognitivist ein Kritiker des Kognitivismus, der die Position vertritt und argumentiert, dass ethische Sätze nicht im mathematischen und nicht im naturwissenschaftlichen, also in keinem üblichen Sinne wahr sein können. Eine strengerer nonkognitivistischer Standpunkt wird von Philosophen vertreten, die der Meinung sind, dass ethische Sätze in gar keinem Sinne wahr oder falsch sein können. Dies ist allerdings eine Position, die seit dem Aufschwung der Normenlogik im Grunde nicht mehr ernsthaft vertreten wird.
Die Position der Naturalisten, also jener Kognitivisten, die behaupten, man könne ethische Sätze auf naturwissenschaftliche reduzieren, muss sich je nach Gestalt und Ausprägung mit starken Gegenargumenten konfrontiert sehen. David Hume beispielsweise bewies, dass sich aus einer widerspruchsfreien Menge deskriptiver („beschreibender“) Sätze logisch keine gehaltvollen präskriptiven („vorschreibenden“) Sätze ableiten lassen. Dieses Problem wird „Sein-Sollen Dichotomie“ genannt. Wie aus einigen meiner Artikel hervorgeht, bin ich der Meinung, dass in unserer Natur Werte nicht als Tatsachen vorhanden sind, sondern dass es die Lebewesen sind und insbesondere der Mensch, der sie in die Natur der Dinge hineinlegt. Dieselbe Ansicht vertrete ich bezüglich ethischer Systeme. Ich denke, meine Bezeichnungen machen das auch sehr deutlich, habe ich doch auch an mancher Stelle synonym von „moralischen Konstrukten“ gesprochen. Wenn wir uns also mit dem Gedanken anfreunden, dass ethische Sätze keine naturwissenschaftlichen Fakten sind, dann folgt daraus, dass die Ethik keine Naturwissenschaft ist. Nun begeht manch einer den Fehler und sagt, dass sie demnach gar keine Wissenschaft sein kann. Überhaupt scheint der Gedanke weit verbreitet zu sein, dass man Recht tut damit, keinen anderen Wahrheitsbegriff zuzulassen, als den streng logischen der Mathematik oder den rein empirischen der Naturwissenschaften. Finden wir allerdings eine Möglichkeit der objektiven Überprüfbarkeit und Rechtfertigung ethischer Normen, so haben wir auch einen validen und wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff für die Ethik gefunden. Eine solche „Verankerung“, die über die subjektive Intuition hinausgeht, gilt es also zu suchen.

In einer meiner Philosophievorlesungen wurde nur kurz ein Vergleich erwähnt, über den ich mir seither viele Gedanken gemacht habe. Die Straßenverkehrsordnung ist ein System aus Normen. Es dient einem bestimmten Zweck, nämlich dem, einen flüssigen und möglichst unfallfreien Verkehr aufrechtzuerhalten. Diesem Zweck entsprechen die Verbote, Gebote und Erlaubnisse, die das Verhalten der Verkehrsteilnehmer regeln sollen. Man kann vernünftige Diskussionen darüber führen, ob eine bestimmte Norm im Sinne dieses Zweckes gerechtfertigt ist, oder ob man sie nicht durch eine geeignetere ersetzen oder, falls sie nicht notwendig ist, streichen könnte. Die Normen der Straßenverkehrsordnung sind nicht im üblichen, bekannten Sinne wahr oder falsch, sie sind sinnvoll oder nicht sinnvoll in Anbetracht des Zweckes, dem sie unterstehen.
Demselben Prinzip entsprechen nicht nur die Gesetze der Straßenverkehrsordnung, sondern sämtliche Rechte, Pflichten und Erlaubnisse, die unser gesellschaftliches Leben regeln. Nun muss man fragen: Welchem allgemeinen Zweck untersteht das Gesetz? Dem, eine Gesellschaft zu ermöglichen, in der möglichst alle ein glückliches Leben führen. Nun hört man den Skeptiker schon fragen: „Warum soll es gut sein, eine Gesellschaft zu ermöglichen, in der jeder ein glückliches Leben führt?“ Und natürlich lässt sich diese Frage schwer beantworten, wohl ebenso, wie sich die Frage schwer beantworten lässt, warum es gut sein soll, einen flüssigen und unfallfreien Verkehr aufrechtzuerhalten. Im eingangs erwähnten und verlinkten Artikel „Zur moralischen Grundlage“ habe ich mich dennoch damit auseinandergesetzt, hier möchte ich darauf nicht mehr näher eingehen.
Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass der radikale Skeptiker jede Art von Erkenntnis hinterfragen kann, nicht nur die ethische, auch die naturwissenschaftliche. Selbst in der Mathematik muss man mit unmittelbar einleuchtenden Voraussetzungen oder festgelegten Definitionen beginnen, die selbstrechtfertigend sind und nicht von außen begründet werden. Wenn eine solche Vorgehensweise also in der Mathematik und in den Naturwissenschaften gängig ist und zu funktionierenden Ergebnissen führt, so frage ich mich, warum sie nicht auch in der Ethik Anwendung finden kann. Ich halte es für ebenso problematisch oder unproblematisch durch Definition festzulegen: (1) „Es ist gut, wenn Lebewesen glücklich sind.“ und (2) „Das, was gut ist, soll sein.“, wie durch Definition festzulegen: „Jede natürliche Zahl n hat einen Nachfolger n+1.“. Wie man in der Mathematik mit der zweiten Definition arbeitet, so kann man in der Ethik mit der ersten arbeiten. Und ganz unabhängig von der nach wie vor nicht uninteressanten und bedeutenden Frage, ob ein axiomatisches Vorgehen dieser Art, egal auf welchem Gebiet, philosophietheoretisch vertreten werden kann, wird es in der präskriptiven Praxis ohnehin angewandt.

Zusammenfassend: Ethische und normative Systeme unterstehen einem Zweck, beispielsweise dem, eine Gesellschaft zu ermöglichen, in der möglichst jeder ein glückliches Leben führen kann. Die von Menschen entwickelten Normen innerhalb des Systems können diesem Zweck gemäß sinnvoll oder nicht sinnvoll, gerechtfertigt oder ungerechtfertigt sein. Unter der Voraussetzung des Zweckes kann man darüber eine rationale, objektive Diskussion führen und Ethik als Wissenschaft betreiben. Beispiele für ethische Systeme sind Rechtssysteme. Die erkenntnistheoretische Diskussion um den Skeptizismus soll nicht insbesondere im Bezug auf das Voraussetzen eines den ethischen Systemen überstehenden Zweckes geführt werden, sondern allgemein auch im Bezug auf das Festlegen von Prämissen in Formalwissenschaften oder im Bezug auf die Bezweifelbarkeit der deduktiven naturwissenschaftlichen Methode.

Liebe Grüße,
Mahiat

From → Betrachtungen, Ethik

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