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Annus Mirabilis 2021

Vor fast zwei Jahren habe ich einen Artikel über meine Sicht auf die längerfristige Zukunft veröffentlicht. Darin beschrieb ich, dass sich die globalen Lebensverhältnisse in den letzten 200 Jahren im Wesentlichen stark verbessert haben, dass extreme Armut abgenommen hat, dass viele Diktaturen und autokratische Systeme von Demokratien abgelöst wurden und dass sozialpolitische Reformen zu mehr individueller Freiheit geführt haben. An vier Beispielen erklärte ich meine Überzeugung, dass sich diese Entwicklungen in den nächsten 200 Jahren fortführen werden, und dass ich deshalb „ausgesprochen optimistisch“ in die längerfristige Zukunft blicke.
Wer das vergangene Jahr erlebt hat, muss sich sicher eingestehen, dass es wahrscheinlich kein besonders großer Schritt in Richtung blumiger Zukunftsvisionen gewesen ist. Das tut dem Optimismus im Bezug auf die nächsten 200 Jahre natürlich nicht unbedingt Abbruch. Im 19. und 20. Jahrhundert hat es neben Pandemien auch Weltkriege und andere Katastrophen gegeben, die die oben erläuterten statistischen Aufwärtstrends stets nur vorübergehend dämpfen konnten. Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass wir uns auch von der gegenwärtigen Krise rasch erholen und, wie es ständig heißt, gestärkt aus ihr hervorgehen. Dass 2021 das Jahr wird, in dem wir die Coronapandemie besiegen, und dass dann alles wieder gut wird und wir zur sogenannten Normalität zurückkehren können.

Ich teile diese Hoffnung nicht, und auch meinen langfristigen Optimismus würde ich heute etwas vorsichtiger formulieren, als noch vor zwei Jahren. Ich habe mich damals zwar in erster Linie auf sozialpolitische Themen bezogen. Aber eine gute Sozialpolitik braucht Stabilität und bestimmte ökonomische und ökologische Voraussetzungen. Jene positiven Entwicklungen der letzten 200 Jahre, die mit einer unfassbaren Beschleunigung des Wohlstandes in manchen Ländern der Welt einhergingen, konnten nur durch einen Raubbau natürlicher Ressourcen erreicht werden, nur durch eine Verschuldung jeder Generation zu Lasten der darauffolgenden. Der Klimawandel zeigt längst seine Auswirkungen, ruiniert Existenzen und fordert das Leben von Menschen und Tieren. Und doch sind wir noch Jahrzehnte vom Höhepunkt dieser Katastrophe entfernt. Es drängt sich das Bild einer Bombe auf, die von einer Generation zur nächsten weiter gereicht wird, und die Lunte wird kürzer und kürzer. Solange die Lunte lang ist, kann man vortrefflich über die Leiden der Menschheit in 200 oder auch in 100 Jahren philosophieren. Die Rücksichtnahme auf das Wohl der Ururenkel, der Urenkel, ja selbst der Enkel ist etwas Abstraktes, etwas Theoretisches, besonders wenn man selbst noch jung sind. Wenn die Lunte aber so kurz ist, dass es um die eigenen Kinder geht, wird es plötzlich ganz konkret, ganz greifbar. Und man befindet sich zum ersten Mal in der Situation, in der man fast nur pessimistisch in die Zukunft blicken kann, auch in die längerfristige. Dann ist man die erste Generation seit Jahrhunderten, die sich für ihre Nachkommen wünschen muss, sie hätten es wenigstens halb so gut wie man selbst.

Ja, 2021 soll das Jahr sein, in dem wir Covid-19 in den Griff bekommen. Die WHO warnte jedoch unlängst, dass wir uns auf schlimmere Pandemien als die derzeitige vorbereiten sollten ([1]). Die Entstehung von Infektionskrankheiten wird durch ähnliche Ursachen begünstigt wie der Klimawandel ([2]). Vieles deutet darauf hin, dass die Geschehnisse des letzten Jahres nur ein Vorgeschmack auf noch größere Krisen in der Zukunft gewesen sein dürften. Und was wir heute und morgen tun, wird Auswirkungen auf das Wohl unserer Kinder haben, auf die Welt in wenigen Jahrzehnten, und dadurch auch auf die Welt in 200 Jahren. 2021 soll nicht das Jahr sein, in dem wir zur Normalität zurückkehren. Es soll das Jahr sein, in dem wir die Lunte endlich zu löschen, bevor sie im Hals der Bombe verschwindet.

Gescheiterte Staaten

Die Unruhen in den Vereinigten Staaten führen das Land in eine gefährliche Krise. Sie wurden durch die brutale Ermordung von George Floyd ausgelöst und haben ihren bisherigen Höhepunkt in Plünderungen und Straßenschlachten gefunden, die Verletzte und Tote forderten. Der Präsident äußerte obligatorische Solidaritätsbekundungen mit friedlichen Protesten, zeigte aber vor allem seine Empörung über die Gewaltbereitschaft vermeintlich terroristischer Aktivisten unter den Demonstranten. Diese Empörung über Menschen, die sich mit ruhigen Kundgebungen nicht länger zufrieden geben, findet breite Zustimmung. Schnell wurde klar, dass die Unruhen unbeteiligte Opfer forderten und von Leuten ausgenützt wurden, die sich selbst bereichern wollen. Trump twitterte „LAW & ORDER!“, während viele den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung fürchteten. Aber was bedeutet das überhaupt? Diese Frage hat sich Trevor Noah („The Daily Show“, [1]) gestellt und damit eine interessante Perspektive auf die Geschehnisse angeboten, auf die ich hier eingehen möchte.

Voraussetzung der menschlichen Gemeinschaft ist ein Vertrag – so lautet eine der Grundannahmen im politisch-theoretischen Hauptwerk von Jean-Jacques Rousseau. Der Gesellschaftsvertrag beruht auf dem sogenannten Gemeinwillen, der von allen ausgeht und auf das Wohl aller abzielt. Dieser Gemeinwille ist nach Rousseau unfehlbar, man kann sich darunter also ein ideales Prinzip vorstellen, etwa die Gerechtigkeit. Was unsere Zivilisation nun vom sogenannten Naturzustand unterscheidet ist die Tatsache, dass jeder von uns sich diesem Gesellschaftsvertrag freiwillig unterordnet. Wir sind bereit, einen Teil unserer natürlichen Freiheiten aufzugeben zugunsten einer gesellschaftlichen Ordnung. Ein Beispiel hierfür ist die Monopolisierung von Gewalt in einem Staat. Im Naturzustand gilt bei einem Konflikt zwischen zwei Parteien das Recht des Stärkeren, wobei jeder selbst Gewalt ausübt, um seine Interessen durchzusetzen. In einem Staat werden Konflikte idealerweise unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten gelöst. Physische Gewalt darf dabei nur von staatlichen Organen ausgeübt werden, etwa von der Polizei. Das Recht, selbst Gewalt zur Durchsetzung unserer Interessen anzuwenden, haben wir mit dem Eintritt in den Gesellschaftsvertrag abgegeben. Davon unberührt sind nur wenige Ausnahmen, etwa Fälle von Notwehr.
Es ist klar, dass niemand von uns diesem Gesellschaftsvertrag aktiv zugestimmt hat. Rousseau sieht die freiwillige Unterordnung als selbstverständlich an, da der Gemeinwille unfehlbar ist. Wie problematisch diese theoretische Lösung in der politischen Praxis ist, sieht man momentan in den Vereinigten Staaten. Ziviler Gehorsam setzt ein hohes Maß an Vertrauen in staatliche Institutionen voraus. Jeder einzelne Fall, in dem die Polizei die ihr gegebene Macht missbraucht, ist daher ausgesprochen problematisch. Gibt es in solchen Fällen darüber hinaus keine strafrechtlichen Konsequenzen, kann von einem Souverän, der einen unfehlbaren Gemeinwillen durchsetzt, keine Rede sein. Es kommt zu einem Vertrauensverlust, und die öffentliche Ordnung ist gefährdet. Der Gesellschaftsvertrag ist gebrochen.

Der Auslöser der Unruhen war der Tod von George Floyd. Die Ursache der Unruhen ist eine tiefgreifende, systematische und vor allem rassistisch motivierte Ungerechtigkeit, die die gesamte US-amerikanische Gesellschaft durchdringt. Sie hat bei weitem nicht nur mit Polizeigewalt zu tun, sondern mit einer prinzipiellen Benachteiligung, die mit unwürdigen Lebensumständen und einer allgemeinen Aussichtslosigkeit verbunden ist. Der Bruch des Gesellschaftsvertrages führt zu einer gemeinschaftlichen Rage, die wiederum eine erhöhte Gewaltbereitschaft bedingt. Diese Unruhen und ihre Konsequenzen sind furchtbar, aber keineswegs überraschend. Hätten die unzähligen friedlichen Proteste in der Vergangenheit zu ernsthaften Reformen geführt, wäre es nie dazu gekommen. Die Eskalation war absolut vorprogrammiert; sich nun über diese Menschen und ihre Rage empört zu zeigen, ist ein Ausdruck privilegierter Gleichgültigkeit, der im schlimmsten Fall zu einer Katastrophe führen kann.

Stoizismus in einer Pandemie

Wir befinden uns in einer beispiellosen Krisensituation. Die politischen Institutionen müssen gravierende Entscheidungen treffen und die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme lösen, die aus den Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche entstehen. Die Gesellschaft benötigt die Ausdauer und die Solidarität, um diese Maßnahmen mitzutragen und jene zu unterstützen, die von der Krankheit am stärksten betroffen sind. Es braucht einen Journalismus, der uns offen und verlässlich informiert, und Menschen, die gefährliche Entwicklungen kritisch hinterfragen. Darüber hinaus hat jeder und jede einzelne von uns auf völlig individuelle Weise mit der Krise zu kämpfen. Für Leute in systemkritischen Berufen, zu denen auch die im Beitrag Wachstum und Zerfall erwähnten unverzichtbaren Dienstleistungen zählen, steigt die ohnehin stets hohe Arbeitslast noch weiter. Manche Menschen sind von plötzlicher Arbeitslosigkeit betroffen, von Sorgen um Familienangehörige, von finanziellen und existentiellen Ängsten oder von psychischer Krankheit, die durch die soziale Isolation verstärkt wird.
Ich möchte heute keine gesamtgesellschaftlichen Belange diskutieren, weder die Angemessenheit der erwähnten Maßnahmen noch Prognosen über den Verlauf der Pandemie. Ich möchte stattdessen über eine uralte und enorm einflussreiche Philosophie sprechen, nämlich die Stoa. Diese Schule wurde um 300 v. Chr. von Zenon gegründet, bekannte Vertreter waren Seneca und der römische Kaiser Marcus Aurelius. Sie hat neben anderen philosophischen Strömungen auch das Christentum und den Islam geprägt. Im Folgenden aber werde ich die Historie, die Persönlichkeiten, die Kosmologie und die Metaphysik außen vor lassen und mich nur auf einen ganz bestimmten Bereich der Ethik konzentrieren, in dem die große Stärke dieser Philosophie liegt. Denn die Stoa stellt aus meiner Sicht die besten Ratschläge bereit, um Leid zu ertragen. Diese Ratschläge sind als Hilfestellungen zu verstehen und nehmen große Rücksicht auf die menschliche Natur. Gleichzeitig ist es mir wichtig zu betonen, dass kein Ratschlag so gut ist, dass er jedem Menschen in jeder Lebenssituation helfen könnte. Je besser man jedoch über ethische Konzepte Bescheid weiß, desto mehr Werkzeuge hat man zur Hand, um angemessen auf Krisen zu reagieren. Die Konzepte zu verstehen, ist dabei nur der erste Schritt. Wie bei allen Werkzeugen muss man den Umgang mit ihnen üben, wenn man sie tatsächlich verwenden möchte. Damit dieser Beitrag nicht zu lange wird, habe ich mich auf drei Punkte beschränkt, die mir besonders relevant für die derzeitige Lage scheinen.

1) „Einige Dinge stehen in unserer Macht, andere nicht. In unserer Macht sind Urteil, Bestrebung, Begier und Abneigung, mit einem Wort alles das, was Produkt unseres Willens ist. Nicht in unserer Macht sind unser Leib, Besitz, Ehre, Amt, und alles was nicht unser Werk ist.“ – Epiktet
Keiner von uns weiß mit Sicherheit, was in den nächsten Monaten auf uns zukommen wird. Aber jeder von uns hat einen Einfluss darauf. Für die Stoiker ist ein glückliches Leben dasselbe wie ein tugendhaftes Leben. Wir alle fällen jeden Tag unzählige Entscheidungen. Sie betreffen unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Worte und unsere Handlungen. Sofern sie unsere Gedanken und Gefühle betreffen, beeinflussen sie, wie wir uns selbst fühlen. Sofern sie unsere Worte und Handlungen betreffen, beeinflussen sie auch, wie andere sich fühlen. Jeder Mensch fasst ununterbrochen solche Entschlüsse, selbst unter den widrigsten Umständen. Manche Menschen haben einen größeren Wirkungsbereich als andere. In welche Kategorie wir fallen, ist nicht in unserer Macht. Niemand aber ist ohne Macht. Wer lebt, entscheidet. Gleichzeitig sind diese Entscheidungen alles, was wir kontrollieren können. Wir können unser Bestes dafür tun, um ein gewünschtes Resultat zu erzielen. Aber wir können es nicht erzwingen. Das betrifft insbesondere die im Zitat erwähnten Lebensbereiche Leib, Besitz, Ehre und Amt. Wir können dazu beitragen, dass sich unserer Position in diesen Belangen verbessert. Aber jeder Mensch mit einem Funken Lebenserfahrung weiß, dass dieser Einfluss beschränkt ist.
Was auch immer mit uns geschieht, wie auch immer sich die Gesellschaft und unser Wirkungsbereich verändert, die Konzentration auf unsere Entscheidungen hilft uns dabei, ein gutes Leben zu führen und keine Energie auf Dinge zu verschwenden, die wir nicht beeinflussen können. „Nicht was, sondern wie du erträgst, ist von Belang.“, schrieb Seneca. Gute Entscheidungen schaffen immer die denkbar besten Voraussetzungen dafür, dass wir selbst und die Menschen in unserem Umfeld so glücklich wie möglich sind.

2) „Bedenke, dass die menschlichen Verhältnisse insgesamt unbeständig sind. Dann wirst Du im Glück nicht zu fröhlich und im Unglück nicht zu traurig sein.“ – Sokrates
Das zweite Werkzeug betrifft unseren Umgang mit all jenen Dingen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Die Stoiker sprechen in diesem Zusammenhang von „Fati“, dem „Schicksal“. Das ist ein bedeutungsschwangerer Begriff, aber hier ist damit nichts anderes gemeint als das, was wir gemeinhin „Glück“ und „Pech“ nennen. In jedem Falle steht fest, dass das Gelingen unserer Vorhaben niemals nur von unseren Entscheidungen abhängt, sondern immer auch von externen Faktoren, die wir nicht beeinflussen können. „Fati“ beginnt mit den Umständen, unter denen wir geboren werden, und zieht sich in Form von Zu- und Unfällen durch unser ganzes Leben hindurch. Es schleust eine inhärente und augenscheinlich sinnlose Ungerechtigkeit in unser Leben ein.
Sokrates ist 399 v. Chr. gestorben und war daher kein Stoiker. Sein Ratschlag ist dennoch ein zutiefst stoisches Plädoyer für Seelenruhe. Ein Mensch kann nur dann nachhaltig zufrieden leben, wenn er sein Glück nicht an die Willkür von „Fati“ knüpft. Keiner von uns ist in der Lage, die externen Faktoren zu ändern, die unser Leben mitbestimmen. Aber wir können entscheiden, wie wir auf sie reagieren; und wir können hinterfragen, wie wir sie wahrnehmen. Manche Krisen sind so gewaltig, sinnlos und furchtbar, dass sie uns im Kern erschüttern und wir nicht mehr tun können als versuchen, sie zu überleben. Mit ihnen wird sich das dritte Werkzeug beschäftigen. Andere Krisen wiederum mögen uns erschüttern, aber nicht im Kern. Leiden sind im Leben unvermeidbar und bringen nicht immer nur Schlechtes hervor. Wer sie überlebt, hat die Möglichkeit, an ihnen zu wachsen. Das gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern für die ganze Gesellschaft. Zum Zeitpunkt eines Ereignisses ist oft unklar, wie es sich langfristig auf unsere Zukunft auswirken wird. Das trifft auch auf die derzeitige Pandemie zu.

3) „Kein Schmerz, der groß ist, dauert lang.“ – Seneca
Es gibt eine recht bekannte Geschichte von einem König, der den Weisen an seinem Hof eine Aufgabe stellte. Sie mögen eine Botschaft ersinnen, die ihm in Momenten völliger Verzweiflung helfen würde. Die Botschaft müsse sehr kurz sein, denn er wollte sie unter den Diamanten seines Ringes verbergen.
Jahre später wurde das Land überfallen, der König verlor sein Reich. Er war allein und umzingelt von Feinden, als er sich an die Botschaft in seinem Ring erinnerte. Er holte ihn hervor, löste die Diamanten und las. Dort stand: „Auch dies wird vorübergehen.“
Selbst in den schwersten Stunden unseres Lebens gibt es einen Trost: Alles verändert sich, alles geht vorbei. Keinen Schmerz müssen wir ewig ertragen. In Die Schönheit der Hölle habe ich das so beschrieben:
„In jeder Hölle muss es Glück geben, wenigstens in der Form des Schwindens oder der Abwesenheit von Leid. Ist das Leid nämlich beständig, so kann es nicht groß bleiben. Jedes große Leid wird, wenn es beständig ist und nicht tödlich, ein kleines Leid. Ein Geist nämlich, der beständigen Schmerzen zugänglich ist, ist der Erinnerung fähig; ist er ist nicht, so ist jedes Leid für ihn ein neues, aber ein kurzes. Ein sich erinnernder Geist jedoch ist auch ein sich gewöhnender Geist. Wenn die Leiden also nie aufhören und sich nie abwechseln, dann müssen sie, wenn sie nicht irgendwann verschwinden, so doch wenigstens abnehmen. Der tausendste Tag des Leidens wird vom sich erinnernden Geist nicht gleich empfunden werden, wie der erste Tag.“ 
 

Diese drei Erkenntnisse geben einen kleinen Einblick in die stoische Philosophie. Wer sich darüber hinaus mit der Stoa beschäftigen möchte, dem will ich den Youtube-Channel von Einzelgänger ans Herz legen. Ich halte die Videos für ausgesprochen gelungen, und sie sind definitiv leichter zugänglich, als ausgedehnte Blogartikel. 🙂

Alles Liebe
Markus

Minen und Blumenwiesen

Hier sind zwei kurze Auszüge aus meiner Geschichte Gottes Nachlass, die als kostenloses E-Book verfügbar ist:

[…] Die Kundigen unter den Reisenden hatten umfangreiche Karten erstellt, und zu der Zeit, zu der Era lebte, waren beinahe alle Bereiche der Welt entdeckt worden. Die bunten Wiesen ihrer Mitte, die Mischwälder, die Wüsten und Seen, sie alle waren ringsherum umschlossen von den grünbraunen Ebenen des äußersten Randes, und diese wiederum waren umschlossen von einer lückenlosen Bergkette. Kein Mensch wusste, was oder ob überhaupt etwas hinter den Bergen lag, und so galten die Minenschächte, die in sie hineinführten, als das Ende der Welt. Jahrhundertelang hatte man immer tiefer und tiefer gegraben, getrieben von der Gier nach Schätzen zum einen, zum anderen von der Hoffnung, irgendwann einmal durch den Stein zu stoßen und die Sonne zu sehen. Doch in der Tiefe fand man keine Rohstoffe mehr, und so hatte man jeden dieser Versuche wieder aufgegeben. Als Era lebte, glaubte kaum noch jemand daran, dass es überhaupt möglich war, sich durch den Berg zu graben. Wer davon überzeugt war, galt als absonderlich. Wer es versuchte, galt als völlig verrückt. Doch Era wusste, dass es nicht verrückt war. An wolkenlosen, klaren Tagen konnte sie ihre Vorhänge öffnen, aus dem Fenster sehen und die Spitzen der kleinsten Berge in das Blau des Himmels ragen sehen. ‚Wenn ich nur jetzt, in diesem Moment, dort oben stehen würde, dann könnte ich es sehen. Ich könnte alles sehen.‘, dachte sie sich.  Sie wusste nicht, was sie sehen würde. Aber sie wusste, dass sie irgendetwas sehen müsste; irgendetwas, das hinter diesen Bergen lag; irgendetwas, von dem alle Welt glaubte, dass es gar nicht da sein könnte. Und wenn es der Abgrund der Welt sein würde, er läge ihr entblößt vor Augen, und es wäre der Höhepunkt ihres Lebens.

[…]

Unter den Linden ferner Wälder liegt buntes Laub, und der Wurm kriecht über seine Würmchen. Blatt, Stock, Stein und Erde vermengen sich mit den schweren Regentropfen, die aus der dicken Wolkendecke auf das Land donnern. Ein Riss im Himmel, ein Sonnenstrahl taucht die feuchte Luft in die Farben des Regenbogens. Nun kriecht kein Wesen mehr durch den Staub, und das Laub vermengt sich nicht länger mit der Erde. In der Hitze beginnt es langsam, sich zu erheben. Es wird hinauf in die hohen Lüfte getragen, weit fort vom stürmenden Wind, und wird getrocknet vom heißen Licht. Es fliegt durchs ganze Land, hinaus aus dem Walde und über die kargen Ebenen, vorbei an den Hütten und dem Berge entgegen. Dort trägt es sich an der nackten Steinwand hoch, in einem Kreisel, ein Windturm aus kreiselndem Laub, der bis zu den Gipfeln der kleinsten Berge reicht; und eine letzte Böe treibt die Blätter über sie hinweg.

Schlag um Schlag ließ Era den Stein bersten. Die Arbeit mit der Hacke war anstrengend und umso mühseliger für sie, die daran nicht gewöhnt war. An ihren Händen hatten sich schon nach kurzer Zeit Blasen gebildet, und mittlerweile blutete sie in das feuchte Holz des Stieles. Schlag um Schlag ließ Era den Stein bersten und fühlte den Schmerz. Es war zutiefst befriedigend.
„Du arbeitest hart!“, hörte Era einen der Männer zu ihr sagen, der nicht unweit von ihr stand. Sie hatte seinen Namen vergessen.
„Du auch“, gab sie zurück.
Und darauf folgte minutenlange Stille, einzig durchbrochen vom ständigen „Klack“ der Hacken, die auf den Stein schlugen. Irgendwann schrie jemand „Pause!“, und Era legte ihr Werkzeug beiseite und setzte sich zu den anderen, um etwas zu essen.
„Heute is‘ nix los“, sagte der Mann, der vorhin zu Era gesprochen hatte, in die Runde. „Ich find‘ heute nix.“
„Ich auch nicht“, meinte ein anderer ihm gegenüber. „Aber der Sommer insgesamt war gut.“
„Das will ich auch hoffen“, meldete sich ein Dritter. „Wir haben ja nichts anderes gemacht, haben keine Sonne gesehen in all den Tagen.“
„Die Sonne ist hier auch nicht gerade oft zu sehen“, sagte Fux.
„Ich will hier nicht mehr lange bleiben. Wenn ich fliegen könnte, wäre ich in wenigen Stunden zuhause. Ein Vogel müsste man sein“, sprach der Erste wieder.
„Vögel gibt es nicht!“, schallte es aus aller Munde.
Und dann war wieder Stille. Era konnte die Männer schmatzen hören. Im Licht der Lampen warf ein jeder von ihnen mehrere lange Schatten.
„Kennt jemand einen Witz?“, wollte Era wissen.
„Einen Witz?“, fragte Fux nachdenklich.
„Ja, einen Witz. Hab‘ schon lange nicht mehr gelacht“, sagte einer der Männer, der bis jetzt geschwiegen hatte.
Und wieder war es ruhig. Offenbar kannte niemand einen Witz.
„Würdest du erzählen, wie es dort so ist, wo du herkommst?“, sagte Era nach einer Weile und richtete ihre Frage an den Mann, der vorhin von seiner Heimat gesprochen hatte.
„Daheim ist immer schönes Wetter“, begann er freudig zu erzählen, „Und im Frühling stehen die Bäume in voller Blüte. Ich lebe in einer kleinen Hütte im Wald und bin trotzdem nicht allein. Habe dort viele Nachbarn. Und Tiere gibt es auch, Rehe und Füchse und Hasen, überall. Hier habe ich noch kein einziges Tier gesehen, seit ich angekommen bin.“
„Und jagt ihr die Tiere?“, erkundigte sich Era.
„Jagen?“, antwortete der Mann verdutzt. „Nein, wir jagen sie nicht.“
Und erneut war es still geworden. Als sich Era gerade wunderte, wann sie zuletzt die Gesprächigste in einer Runde von Leuten gewesen war, begann ein anderer zu reden.
„Bei mir daheim ist es ganz anders. Ich kenne Bäume nur aus der Ferne. Ich lebe im Flachland und bin gewohnt an Blumenwiesen und an Seen und Flüsse. Mein Herz hängt daran und ich bin froh, wieder von hier fort zu gehen.“
„Dann kommst du aus der Mitte der Welt?“, fragte Era ihn.
„So ist es“, antwortete er, und fügte leise hinzu: „Und die Leute dort sind viel netter, als hier.“
„Die haben ja auch gar keinen Grund, nicht nett zu sein“, grummelte Fux. Einige der Männer schmunzelten.
„Ich schlage vor, dass wir uns wieder an die Arbeit machen. Die Ausbeute ist mager bis jetzt“, sprach kurz darauf jener Mann, der gern ein Vogel wäre. Und alle nickten zustimmend und verschlangen die letzten Bissen.

Wachstum und Zerfall

Viele Mitglieder der Generationen Y und Z sind mit der Vorstellung groß geworden, dass Leistung, Mühe und harte Arbeit von der Gesellschaft angemessen entlohnt werden. Unsere Wirtschaft muss ständig wachsen und ist von unser aller Arbeitskraft, Produktivität und Konsumfreude abhängig. Das altertümliche Märchen der Leistungsgerechtigkeit durchzieht Erziehung, Schule, Kultur und ist das wichtigste Narrativ konservativer Wirtschaftsparteien. Doch es ist eine absurde und unehrliche Erzählung, und je instabiler die Wirtschaft und die Gesellschaft werden, desto gefährdeter ist sie, aufzufliegen.
Die Lebensqualität in Österreich ist ungemein hoch. Einige Menschen leisten durch ihre Arbeit einen ganz unmittelbaren Beitrag dazu, dass das Zusammenleben in diesem Land derart reibungslos abläuft. Diese Dienstleistungen zeichnen sich durch ihre absolute Unverzichtbarkeit aus. Zu ihnen gehören auch die Müllabfuhr, die Lebensmittelversorgung, der öffentliche Verkehr und die Pflege. Berufe in diesen und ähnlichen Bereichen sind oft mit hohen körperlichen oder psychischen Anstrengungen verbunden. Die Leistung, die etwa ein Mensch in der Pflege erbringt, ist – nach jeder nur irgendwie sinnvollen Definition des Begriffs – enorm hoch. Die zumeist unterdurchschnittliche Bezahlung der Berufe in diesen Branchen ist mit dem Narrativ der Leistungsgerechtigkeit unvereinbar und allein dadurch zu erklären, dass auch der Arbeitsmarkt dem alles regierenden Gesetz von Angebot und Nachfrage gehorcht. Jeder Versuch, die geringe Entlohnung moralisch zu rechtfertigen, ist zum Scheitern verurteilt. Wer etwa einem Menschen seine mangelnde Qualifikation zum Vorwurf macht, der ignoriert die Tatsache, dass kulturelles Kapital ungleich und ebenso ungerecht verteilt ist wie finanzielles Kapital. Unser Geburtsort, unsere Familie, unsere Begabungen, unser Geschlecht, unsere Sprache, unser kulturelles und finanzielles Erbe,… all dies wird ohne unser Zutun bestimmt und steht bereits fest, bevor wir den ersten bewussten Gedanken fassen. Unser Leben wird maßgeblich von dieser natürlichen Lotterie beeinflusst. Dass daraus Ungleichheiten entstehen, ist unvermeidbar. Die wahre Tragödie besteht darin, dass die derzeitigen politischen Verhältnisse die natürlichen Ungerechtigkeiten noch weiter verstärken, anstatt ihnen entgegenzuwirken.

Für die meisten jungen Menschen ist es längst kein Geheimnis mehr, dass die soziale und ökologische Stabilität bedroht ist. Sie gehen zu Tausenden auf die Straßen und sind mit der Mär vom ewigen Wirtschaftswachstum nicht mehr zu beeindrucken. In einem System, in dem bloßes Kapital wie ein Magnet auf alle Ressourcen wirkt, kann es niemals Leistungsgerechtigkeit geben. Eine soziale Korrektur wie das bedingungsloses Grundeinkommen ist unter solchen Umständen moralisch alternativlos.

Veröffentlichung: Gottes Nachlass

Und wenn es der Abgrund der Welt sein würde, er läge ihr entblößt vor Augen, und es wäre der Höhepunkt ihres Lebens.

Era lebt in einer Holzhütte im Schatten der Berge. Sie gehören zu einem Gebirge, das die ganze Welt umschließt und für ihre Bewohner nicht zu überwinden ist. Die Länder innerhalb des Massivs sind gut erforscht, doch niemand weiß, was jenseits der Berge liegt. Keine der Minen, die man in den schwarzen Stein geschlagen hatte, ist bis zur anderen Seite durchgedrungen; und die meisten Menschen bezweifeln, dass das überhaupt möglich ist.

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Meine Geschichte Gottes Nachlass steht ab sofort als kostenloses E-Book zum Download zur Verfügung. Unten findet ihr Links zu den drei gebräuchlichsten Formaten. Da EPUB und MOBI von WordPress nicht unterstützt werden, habe ich die Dateien auf die Dropbox gestellt. Der Download ist ohne Anmeldung möglich. Weitere Informationen zu dieser Veröffentlichung gibt es hier.

Viel Spaß und liebe Grüße
Markus

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Blog und drittes Buch

Diesen Blog gibt es nun seit bald acht Jahren. In meinen Beiträgen beschäftige ich mich mit philosophischen und politischen Themen, beziehe eine klare Position zu kontroversen Themen und bemühe mich dabei stets um eine nachvollziehbare Argumentation. Meine persönlichen Erfahrungen, Gefühle und Befindlichkeiten lasse ich zumeist außen vor, und bewege mich auf einer recht sachlichen Ebene. Wenn ich um eine größere Reichweite bemüht wäre, müsste ich mir selbst raten, etwas mehr von mir preiszugeben. Allerdings bin ich ein recht zurückgezogener Mensch. Ich habe keine Profile in sozialen Netzwerken mehr und würde am liebsten nichts Privates über mein Leben im Internet finden. Es mag zunächst etwas seltsam wirken, dass ein Mensch mit einem solchen Bedürfnis nach Privatsphäre einen Blog betreibt, der die Erstellung eines extrem detaillierten politischen und ideologischen Profils ermöglicht. Aber ich vertrete diese Ansichten nur, sie sind kein Teil von mir. Ich habe nicht das Gefühl, eine sensible Information über meine Person offenzulegen, wenn ich darüber spreche, welche Argumente ich für vernünftig halte und welche nicht. Für mich gibt es, wenigstens in diesem Sinne, keinen bedeutsamen Unterschied zwischen Politik, Philosophie, Mathematik und anderen Wissenschaften. Eine Publikation in diesen Bereichen ist ein Produkt von Expertise und reiflicher Überlegung. Wenn man im Unrecht ist, dann kann man seine Ansichten revidieren, ohne dabei einen Teil von sich selbst aufgeben zu müssen. Bei persönlichen Erfahrungen und Gefühlen ist das naturgemäß anders. Um es (sehr frei) mit Goethe zu sagen: „Was ich glaube, darf jeder wissen. Mein Herz hab‘ ich allein.“
Da mir dieser Blog sehr viel bedeutet, möchte ich heute kurz erklären, warum es hier nur wenige neue Beiträge gibt. In den letzten Jahren werden Blogs zunehmend von Internetauftritten auf Twitter, Youtube und Instagram abgelöst. Mit den Grundprämissen und der Schnelllebigkeit dieser Formate konnte ich mich nie wirklich anfreunden. Natürlich steht es außer Frage, dass sie für die journalistische Arbeit und die Verfolgung des Tagesgeschehens deutlich besser geeignet sind. Texte mittlerer Länge, wie sie auf diesem Blog zu finden sind, verloren dadurch aber noch mehr von ihrer ohnehin geringen Reichweite. Ich bin kein Journalist, andere können diese wichtige Arbeit viel besser machen als ich. Die größte Freude habe ich an der intensiven Beschäftigung mit ausgewählten Themen und an der Arbeit an umfassenderen Projekten. Ich habe daher beschlossen, meine Energie in Zukunft in das Verfassen längerer Texte zu investieren. Das bedeutet nicht, dass hier auf dem Blog überhaupt keine Artikel mehr veröffentlicht werden; es wird auch weiterhin mit der gewohnten Seltenheit und Unregelmäßigkeit geschehen.

Anfang 2017 bin ich mit meinem dritten Buch Gottes Nachlass fertig geworden. Ich habe das Manuskript mehr als zehn Verlagen angeboten und – ganz normal für die Branche – nur von einem Bruchteil eine Antwort bekommen. Ich war auf der Suche nach jemandem, der sich um die Bewerbung und den Verkauf des Buches kümmert. Bei meinen ersten beiden Büchern hatte ich großes Glück, dieses Mal hat es leider nicht geklappt. Ich kann die Gründe gut verstehen und bin auch nicht länger enttäuscht deswegen. Die guten Neuigkeiten: Ich werde Gottes Nachlass kostenlos auf meinem Blog zur Verfügung stellen, und zwar in E-Book- und PDF-Formaten. Der Download wird in wenigen Wochen möglich sein.
Ich plane entsprechend meines oben erklärten Entschlusses weitere Projekte und habe vor, diesen Blog als Plattform für ihre Publikation zu nutzen. Ich schreibe gerne und habe über die Jahre immer mal wieder Mails von Menschen bekommen, die mir glaubhaft vermitteln konnten, dass ihnen meine Texte etwas bedeuten. Da käme es mir sinnlos vor, nur für die Schublade zu schreiben. Wem Bessarius und Molle und die Geschichten und Artikel in den Archiven dieses Blogs gefallen haben, dem empfehle ich also, öfters mal reinzuschauen oder einfach das E-Mail Abo abzuschließen; und ganz besonders empfehle ich natürlich Gottes Nachlass. 🙂

Bis bald und liebe Grüße
Markus

In 200 Jahren

Der melancholische und kritische Grundtenor meiner Texte verrät es nicht, aber ich blicke ausgesprochen optimistisch in die langfristige Zukunft. Wer denkt, dass die Welt sich insgesamt zum Schlechten entwickelt, liegt nachweislich falsch. Die Veränderung globaler Lebensverhältnisse seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist besonders erfreulich ([1], [2]). Die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, ist drastisch gesunken; die Anzahl jener, die Zugang zu Bildung und gesundheitlicher Versorgung haben, ist im selben Maße gestiegen. Diktaturen, autokratische politische Systeme und bewaffnete Konflikte haben im besagten Zeitraum weltweit abgenommen. Wer dem demokratischen Freiheitsverständnis, einer rasant steigenden Literalität und einer schwindenden Kindersterblichkeit etwas abgewinnen kann, der wird sich gemeinsam mit mir darüber freuen, dass die Welt in den letzten 200 Jahren ein schönerer Ort geworden ist.
In oben verlinkter Studie wurde erhoben, dass nur rund 10% der Schweden, 6% der US-Amerikaner und 4% der Deutschen über diese Tatsache Bescheid wissen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, zu denen auch ein weitverbreiteter Pessimismus hinsichtlich der kurzfristigen Zukunft gehört. Die Lösung unserer dringendsten Probleme verlangt nach gewissen Voraussetzungen, die in der derzeitigen weltpolitischen Situation nicht gegeben sind. Manche Herausforderungen scheinen zu groß für die Menschheit, die den Perspektivenwechsel vom nationalen zum globalen Denken viel zu träge vollzieht und, wenn man den Reifegrad des gemeinschaftlichen Bewusstseins beurteilt, in mancher Hinsicht noch immer in den sprichwörtlichen Kinderschuhen steckt. Nachfolgende Generationen werden sich mit den Konsequenzen beschäftigen müssen.
Ich werde nun die spannende langfristige Perspektive der eingangs erwähnten Studie einnehmen und bestimmte Visionen für die Zukunft durch diese Brille hindurch beurteilen. Positiven Zukunftsvisionen haftet naturgemäß etwas Sozialromantisches und Naives an, aber das sehe ich nicht als Problem. Ich stelle sie den Visionen all jener Personen entgegen, dem Religionsfanatiker und dem Selbstzerstörer ebenso wie dem Routenschließer und dem Mauerbauer, die offenbar auch in 200 Jahren noch in einer Welt der Stacheldrähte und der isolierten Nationalstaaten leben wollen; in einer Welt, in der Prinzip und Dogma über den Menschen stehen. Die folgende Beschreibung ist vor allem präskriptiv zu verstehen. In erster Linie wünsche ich mir, dass es zu den entsprechenden Veränderungen kommt. Andererseits ist eine langfristige Zukunft der Menschheit, in der keiner der folgenden Punkte umgesetzt wurde, für mich höchstens als Dystopie denkbar. Ich sehe die politischen und sozialen Entwicklungen, die in der Studie untersucht und dargestellt werden, und führe sie in meiner Vorstellung weiter. Dann stellt sich mir nicht mehr die Frage, ob diese Veränderungen eintreffen werden, sondern nur wann:

1) Ausbau internationaler Beziehungen und Bedeutungsverlust nationaler Grenzen: In einer Welt globaler Handelsnetzwerke, globaler Migrationsbewegungen und globaler Herausforderungen ist die Isolation von Staaten und Staatenbündnissen nicht nur der falsche Weg, sie ist schlicht sinnlos. Wer etwa eine „Festung Europa“ errichtet und denkt, dass die Probleme vor der Haustüre für ihn dadurch verschwunden sind, der irrt. Die Beziehungen und daraus entstandenen Abhängigkeiten zwischen den weltpolitischen Akteuren sind dafür bereits viel zu stark ausgeprägt. Wir müssen endlich damit aufhören, diese wunderbare Chance als Problem zu begreifen. In jedem Falle ist es eine unleugbare Tatsache. Wer sich heute nicht als Weltbürger versteht, versteht die Welt nicht.
2) Ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden Bürger: Die Arbeitswelt ist Veränderungen unterworfen. Aller Voraussicht nach werden stabile und funktionierende Gesellschaften irgendwann nicht mehr darauf angewiesen sein, dass ihre Bürger unfreiwillige Lohnarbeit verrichten. Spätestens dann, wenn diese Arbeit nicht mehr notwendig ist, muss sie zum Zwecke der Maximierung individueller Freiheit aus der Gesellschaft eliminiert werden. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine mögliche Lösung für dieses Problem. In 200 Jahren wird es keine Rolle mehr spielen, wenn jemand die körperliche oder psychische Kraft für Lohnarbeit nicht aufbringen kann. Das wichtigste Ziel einer guten Gesellschaft besteht meines Erachtens gerade darin, jedem seiner Mitglieder ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Bedingungslos.
3) Absolute soziale und politische Anerkennung von Geschlechtergerechtigkeit und LGBTQ+: Gewisse Diskussionen sind bereits heutzutage müßig und der Gedanke, dass sie in 200 Jahren immer noch geführt werden könnten, mutet geradezu absurd an. Debatten um die Anerkennung der Deutungshoheit aller Menschen über ihre eigene Identität und Person gehören auf jeden Fall in diese Kategorie. Selbst manche Politiker, die einer Gleichstellung kritisch gegenüberstehen, rechtfertigen sich immer wieder damit, dass die Gesellschaft wohl noch „nicht so weit“ sei (z.B. [3]); und implizieren also, dass auch sie wissen, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handelt.
Generell wird sich der Umgang mit Menschen, die auf irgendeine Weise von der statistischen Norm abweichen, deutlich verbessern. Das betrifft auch die Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Religionen und Leuten, die aus fremden Ländern stammen. Grund für die Verbesserungen werden die Entwicklungen sein, die im ersten Punkt dieser Liste beschrieben wurden.
4) Abschaffung der Massentierhaltung: Es ist eine Sache, mit dem Blick auf die heutige Situation für eine scheinbare Notwendigkeit der industriellen Tierhaltung zu argumentieren. Dann wird über Arbeitsplätze und die steigende Nachfrage nach Tierprodukten gesprochen. Die langfristige Perspektive ermöglicht es uns, ganz andere Fragen zu stellen. Ich habe auf diesem Blog bereits öfters thematisiert, dass die industrielle Tierhaltung kein effizientes Modell zur Ernährung einer ständig wachsenden Weltbevölkerung ist. Hier stelle ich eine moralische Frage: Soll es in 200 Jahren wirklich immer noch industrielle Tötungsanlagen geben, in denen jährlich Milliarden und Abermilliarden Tiere ihr Ende finden?
Diese Frage ist deswegen so hilfreich, weil sie uns selbst von der Thematik distanziert. Wir sprechen über eine Zukunft, die uns nicht mehr betreffen wird. Ich denke, dass die meisten Menschen die obige Frage deshalb klar verneinen. Dies ist eine gute Voraussetzung für die notwendige gesellschaftliche Veränderung, die bereits begonnen hat. Im Übrigen sage ich nicht, dass am Ende dieses Prozesses eine vegane Weltbevölkerung steht und es nie wieder vorkommen wird, dass Tiere für Nahrung getötet werden. Das Schlachthaus als industrielle Tötungsanlage aber wird Geschichte sein; eines der dunklen Kapitel.

Die Zusammenstellung dieser Ziele und Visionen entspringt, wie erwähnt, meinen eigenen Wünschen für die Zukunft und orientiert sich demnach stark an jener Gesellschaft, in der ich selbst lebe. Ich sage nicht, dass diese Veränderungen überall auf der Welt auf exakt die gleiche Weise vonstattengehen werden, und ebenso wenig, dass es sich um einen stetigen Prozess ohne Rückschläge und Hindernisse handelt. Ich sage vielmehr, dass eine Fortsetzung der positiven Entwicklung globaler Lebensverhältnisse für mich nicht vorstellbar ist, wenn sie nicht von den beschriebenen Veränderungen begleitet wird. Es sind also auch Grundvoraussetzungen für eine konfliktfreie, nachhaltige Zukunft. Es sind vier Punkte, an die ich dabei zuerst gedacht habe, und die Baustellen, an denen wir meiner Ansicht nach arbeiten müssen. Über Ergänzungen freue ich mich natürlich.

Liebe Grüße
Mahiat

Arbeitsanreize

Die von ÖVP und FPÖ am gestrigen Mittwoch präsentierte Reform der Mindestsicherung hat zwei Ziele, die von Kurz und Strache besonders betont werden. Einerseits will man damit eine „Einwanderung ins Sozialsystem“ verhindern, andererseits sollen Anreize für den (Wieder-)Einstieg ins Erwerbsleben geschaffen werden. Diese seien im alten Modell nicht ausreichend gewährleistet, da manche Haushalte mit einem Gehalt insgesamt weniger Nettoeinkommen lukrieren könnten als mit den entsprechenden Sozialleistungen. Insbesondere gilt dies für größere Familien und für Menschen mit geringer beruflicher Qualifikation. „Wer arbeiten geht“, dürfe nicht „der Dumme sein“, meint Kurz im gestrigen ZiB2-Interview und stellt einen Vergleich zweier fünfköpfiger Familien an, die eine finanziert durch den Lohn eines Verkäufers und Leistungen wie die Familienbeihilfe, die andere zur Gänze durch Sozialleistungen wie die Mindestsicherung.
Kurz und Strache verteidigen ihre Reform durch ständige Verweise auf die Leistungsgerechtigkeit. Diese sei etwa im obigen Beispiel nicht gegeben und der Verkäufer müsse sich zu Recht fragen, wofür er eigentlich 40 Stunden die Woche arbeitet. Das wirkt natürlich ausgesprochen überzeugend. Selbstverständlich darf der, der arbeiten geht, in unserer Gesellschaft nicht der Dumme sein. Niemand würde hier widersprechen, und deswegen wird dieser Satz vom Kanzler auch bei jeder Gelegenheit wiederholt. Problematisch an dieser Rechtfertigung ist aber, dass sie keine Argumentation für die Maßnahmen der Regierung darstellt. Um nämlich die Differenz zwischen Sozialleistungen und Löhnen zu erhöhen, gibt es ganz offensichtlich mehrere Lösungen:

1) Gehälter heben: Das durchschnittliche Monatseinkommen in Österreich betrug im Jahr 2016 rund €2360 brutto ([1]). Geringer Qualifizierte finden oft nur in bestimmten Branchen wie dem Hotel- oder Gastgewerbe Arbeit und verdienen dort zum Teil €1500 brutto oder noch weniger. Das sind nicht einmal €1250 Netto im Monat. Niemand in Österreich sollte acht Stunden am Tag, 40 Stunden die Woche (oder mehr, siehe [2]) für unsere Gesellschaft leisten und dafür mit einem solchen Betrag abgespeist werden. Das ist ganz einfach zu wenig. Die Differenz zwischen Sozialleistungen und Löhnen ist zu gering? Vielleicht liegt es daran, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die jeden Tag acht Stunden arbeiten gehen und trotzdem an der Armutsgrenze leben. Arbeitsanreize können auch dadurch geschaffen werden, dass das Gehalt für Berufstätige aller Branchen ein einigermaßen komfortables Leben ermöglicht, in dem man nicht jeden Cent zweimal umdrehen muss. Auch das ist Leistungsgerechtigkeit. Auch das kann „Arbeit muss sich wieder lohnen“ und „Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein“ bedeuten. Natürlich kann man stattdessen
2) Sozialleistungen senken: Das hat die Regierung vor, einerseits im Rahmen der gestern präsentierten Reform der Mindestsicherung, andererseits bei ihren Plänen zum geplanten „Arbeitsgeld Neu“, das uns nächstes Jahr erwartet. Wenn allerdings die niedrigsten Löhne und die Sozialleistungen beide gleichermaßen auf dem Niveau der Armutsgrenze liegen, ist eine Senkung der Sozialleistung zur Vergrößerung der Differenz gefährlicher Unsinn. Die absichtliche Förderung von Armut und prekären Verhältnissen in einem der reichsten Länder der Welt kann nichts anderes sein. Sie hat Auswirkungen auf die Integration, die Radikalisierungs- und Kriminalitätsraten und die Stabilität der Gesellschaft insgesamt. Durch diese Reform werden Menschen bewusst unter die Armutsgrenze gedrückt; darunter Großfamilien, Kinder, psychisch Kranke und Langzeitarbeitslose ohne Chance, irgendeinen Job zu finden. Manche dieser Personengruppen sind durch die Kürzungen besonders stark betroffen. Für Familien ist eine gestaffelte Deckelung vorgesehen, die die bisher erhaltenen Leistungen für mehrere Kinder deutlich reduziert. Personen ohne ausreichende Deutsch- oder Englischkenntnisse und ohne österreichischen Pflichtschulabschluss sollen in Zukunft €300 weniger bekommen, statt €863 nur €563 im Monat ([3]). Davon sind im Grunde ausschließlich Asylberechtigte betroffen, die bei Sozialleistungen nicht diskriminiert werden dürfen. Ob diese Unterscheidung nach Sprachkenntnissen und Schulabschluss verfassungsrechtlich halten wird, wird von Experten daher angezweifelt.

Neben diesen Kürzungen sind auch einige Verbesserungen geplant, etwa die Ausweitung der Zuverdienstgrenzen während des Mindestsicherungsbezugs und ein Bonus für behinderte Menschen. Die kolportierten Einsparungen durch die Reform betragen insgesamt lediglich 40. Mio Euro ([4]). Beides zeigt: Es geht nicht ums Geld. Es geht ums Prinzip. Es geht um die Verschlechterung der Lebensumstände bestimmter Bevölkerungsgruppen. Anstatt die Lage der Arbeitnehmerschaft zu verbessern und für mehr Stabilität in der Gesellschaft zu sorgen, verspricht man ihnen, dass andere es in Zukunft noch schwerer haben werden, als sie selbst. Das ist nicht das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, das ist das Prinzip der sozialen Kälte.

Liebe Grüße
Mahiat

Konsumkritik und Armut

Auf Twitter gibt es eine interessante Blase von Usern, die sich gegen konsumkritische Strömungen richten. Die Argumentation betrifft den Minimalismus, den Veganismus, Zero Waste, Nachhaltigkeit und andere Bemühungen für einem ökologischen Lebensstil. Hier sind die wichtigsten Prämissen des Arguments:
1) Konsumfreiheit ist an finanzielles und kulturelles Kapital geknüpft.
2) Konsumfreiheit ist daher ein Privileg, von dem manche Menschen mehr, andere weniger und wieder andere gar nichts besitzen.
3) Vertreter konsumkritischer Bewegungen fordern Menschen dazu auf, Verantwortung für ihren Konsum zu übernehmen und ihn entsprechend anzupassen.
4) Nur wer ausreichend Konsumfreiheit besitzt, kann Verantwortung für seinen Konsum übernehmen.
Das Interessante an dieser Debatte ist, dass diese Prämissen allesamt korrekt sind. Es sind die Schlussfolgerungen, die den Einwand ausgesprochen problematisch machen:
S1) Konsumkritische Bewegungen sind ein Lifestyle für Wohlhabende.
S2) Wer dazu aufruft, Verantwortung für den eigenen Konsum zu übernehmen, diskriminiert arme Menschen.
S3) Konsumenten sind das letzte Glied der Kette. Sie haben gar keine Verantwortung. Zu ändern sind die Umstände nur von der Politik oder von den Konzernen selbst.
(Quellen: Hier, hier und hier)
Dass diese Schlussfolgerungen nicht aus oben genannten Prämissen folgen, ist offensichtlich. Im Folgenden fasse ich kurz zusammen, warum der Einwand insgesamt Unsinn ist.

Vernünftige Konsumkritik fordert Menschen auf, Gebrauch von ihrer Konsumfreiheit zu machen, soweit sie diese besitzen. Diese Aufforderung ist im Übrigen eine freundliche, und hat nicht immer nur das Wohl aller anderen im Sinn, sondern auch das des konsumierenden Individuums. Bestimmte Konsumformen schädigen bekanntlich nicht nur die Umwelt, sondern auch die eigene psychische und körperliche Gesundheit. Dieses Problem betrifft so gut wie jeden Menschen in unserer Gesellschaft, völlig unabhängig davon, ob er vergleichsweise reich ist oder deutlich unter der Armutsgrenze lebt. Manche von uns können aufgrund ihrer Verhältnisse bei ihren Ausgaben nur ihr eigenes Wohl berücksichtigen, und an sie ergeht durch die Konsumkritik absolut kein moralischer Vorwurf. S2 und S3 sprechen diesen Menschen allerdings die Freiheit und die Verantwortung für ihr Handeln ab, soweit es den Konsum betrifft, und degradieren sie zu unreifen, unaufgeklärten Individuen. Tatsächlich haben auch arme Menschen in Österreich ein gewisses Maß an Konsumfreiheit und tragen Verantwortung für ihre Einkäufe im selben Ausmaß, in dem sie auch für ihr restliches Handeln Verantwortung tragen. Die Umstände rechtfertigen es, dass sie ihr eigenes Wohl an vorderste Stelle setzen. Das ist ein bedeutender Unterschied.
Sprechen wir nun über eine andere Gruppe der Bevölkerung, nämlich über jene Mehrheit, die ein erhebliches Maß an Konsumfreiheit besitzt. Dies sind die Menschen, an die sich die Aufforderungen vernünftiger Konsumkritik vornehmlich richten und an die auch ein moralischer Vorwurf ergeht, wenn sie ihr eigenes Wohl an vorderste Stelle setzen, obwohl die Umstände es eben nicht rechtfertigen. Es handelt sich um eine kritische Masse, die bei einer Änderung ihres Konsumverhaltens in der Lage wäre, die wirtschaftlichen Bedingungen stark zu beeinflussen. Bewegungen wie der Veganismus zeigen bereits spürbare und sichtbare Auswirkungen. Diese Macht liegt in den Händen konsumierender Individuen. Mit ihr geht Verantwortung einher. Sie nicht zu nutzen und in einer demokratischen Gesellschaft auf eine plötzliche „Reform von oben“ durch Politiker und Konzerne zu warten, ist absolut verantwortungslos. S3 ist eine fadenscheinige Ausrede; sich in Standpunkte wie S1 und S2 zu flüchten, die aus den vernünftigen Positionen der Konsumkritik einen Strohmann machen, ist nichts anderes als ein Ausweg, um die eigene Verantwortung nicht wahrnehmen zu müssen.

Liebe Grüße
Mahiat