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Arbeitsanreize

29/11/2018

Die von ÖVP und FPÖ am gestrigen Mittwoch präsentierte Reform der Mindestsicherung hat zwei Ziele, die von Kurz und Strache besonders betont werden. Einerseits will man damit eine „Einwanderung ins Sozialsystem“ verhindern, andererseits sollen Anreize für den (Wieder-)Einstieg ins Erwerbsleben geschaffen werden. Diese seien im alten Modell nicht ausreichend gewährleistet, da manche Haushalte mit einem Gehalt insgesamt weniger Nettoeinkommen lukrieren könnten als mit den entsprechenden Sozialleistungen. Insbesondere gilt dies für größere Familien und für Menschen mit geringer beruflicher Qualifikation. „Wer arbeiten geht“, dürfe nicht „der Dumme sein“, meint Kurz im gestrigen ZiB2-Interview und stellt einen Vergleich zweier fünfköpfiger Familien an, die eine finanziert durch den Lohn eines Verkäufers und Leistungen wie die Familienbeihilfe, die andere zur Gänze durch Sozialleistungen wie die Mindestsicherung.
Kurz und Strache verteidigen ihre Reform durch ständige Verweise auf die Leistungsgerechtigkeit. Diese sei etwa im obigen Beispiel nicht gegeben und der Verkäufer müsse sich zu Recht fragen, wofür er eigentlich 40 Stunden die Woche arbeitet. Das wirkt natürlich ausgesprochen überzeugend. Selbstverständlich darf der, der arbeiten geht, in unserer Gesellschaft nicht der Dumme sein. Niemand würde hier widersprechen, und deswegen wird dieser Satz vom Kanzler auch bei jeder Gelegenheit wiederholt. Problematisch an dieser Rechtfertigung ist aber, dass sie keine Argumentation für die Maßnahmen der Regierung darstellt. Um nämlich die Differenz zwischen Sozialleistungen und Löhnen zu erhöhen, gibt es ganz offensichtlich mehrere Lösungen:

1) Gehälter heben: Das durchschnittliche Monatseinkommen in Österreich betrug im Jahr 2016 rund €2360 brutto ([1]). Geringer Qualifizierte finden oft nur in bestimmten Branchen wie dem Hotel- oder Gastgewerbe Arbeit und verdienen dort zum Teil €1500 brutto oder noch weniger. Das sind nicht einmal €1250 Netto im Monat. Niemand in Österreich sollte acht Stunden am Tag, 40 Stunden die Woche (oder mehr, siehe [2]) für unsere Gesellschaft leisten und dafür mit einem solchen Betrag abgespeist werden. Das ist ganz einfach zu wenig. Die Differenz zwischen Sozialleistungen und Löhnen ist zu gering? Vielleicht liegt es daran, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die jeden Tag acht Stunden arbeiten gehen und trotzdem an der Armutsgrenze leben. Arbeitsanreize können auch dadurch geschaffen werden, dass das Gehalt für Berufstätige aller Branchen ein einigermaßen komfortables Leben ermöglicht, in dem man nicht jeden Cent zweimal umdrehen muss. Auch das ist Leistungsgerechtigkeit. Auch das kann „Arbeit muss sich wieder lohnen“ und „Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein“ bedeuten. Natürlich kann man stattdessen
2) Sozialleistungen senken: Das hat die Regierung vor, einerseits im Rahmen der gestern präsentierten Reform der Mindestsicherung, andererseits bei ihren Plänen zum geplanten „Arbeitsgeld Neu“, das uns nächstes Jahr erwartet. Wenn allerdings die niedrigsten Löhne und die Sozialleistungen beide gleichermaßen auf dem Niveau der Armutsgrenze liegen, ist eine Senkung der Sozialleistung zur Vergrößerung der Differenz gefährlicher Unsinn. Die absichtliche Förderung von Armut und prekären Verhältnissen in einem der reichsten Länder der Welt kann nichts anderes sein. Sie hat Auswirkungen auf die Integration, die Radikalisierungs- und Kriminalitätsraten und die Stabilität der Gesellschaft insgesamt. Durch diese Reform werden Menschen bewusst unter die Armutsgrenze gedrückt; darunter Großfamilien, Kinder, psychisch Kranke und Langzeitarbeitslose ohne Chance, irgendeinen Job zu finden. Manche dieser Personengruppen sind durch die Kürzungen besonders stark betroffen. Für Familien ist eine gestaffelte Deckelung vorgesehen, die die bisher erhaltenen Leistungen für mehrere Kinder deutlich reduziert. Personen ohne ausreichende Deutsch- oder Englischkenntnisse und ohne österreichischen Pflichtschulabschluss sollen in Zukunft €300 weniger bekommen, statt €863 nur €563 im Monat ([3]). Davon sind im Grunde ausschließlich Asylberechtigte betroffen, die bei Sozialleistungen nicht diskriminiert werden dürfen. Ob diese Unterscheidung nach Sprachkenntnissen und Schulabschluss verfassungsrechtlich halten wird, wird von Experten daher angezweifelt.

Neben diesen Kürzungen sind auch einige Verbesserungen geplant, etwa die Ausweitung der Zuverdienstgrenzen während des Mindestsicherungsbezugs und ein Bonus für behinderte Menschen. Die kolportierten Einsparungen durch die Reform betragen insgesamt lediglich 40. Mio Euro ([4]). Beides zeigt: Es geht nicht ums Geld. Es geht ums Prinzip. Es geht um die Verschlechterung der Lebensumstände bestimmter Bevölkerungsgruppen. Anstatt die Lage der Arbeitnehmerschaft zu verbessern und für mehr Stabilität in der Gesellschaft zu sorgen, verspricht man ihnen, dass andere es in Zukunft noch schwerer haben werden, als sie selbst. Das ist nicht das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, das ist das Prinzip der sozialen Kälte.

Liebe Grüße
Mahiat

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