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Minen und Blumenwiesen

25/01/2020

Hier sind zwei kurze Auszüge aus meiner Geschichte Gottes Nachlass, die als kostenloses E-Book verfügbar ist:

[…] Die Kundigen unter den Reisenden hatten umfangreiche Karten erstellt, und zu der Zeit, zu der Era lebte, waren beinahe alle Bereiche der Welt entdeckt worden. Die bunten Wiesen ihrer Mitte, die Mischwälder, die Wüsten und Seen, sie alle waren ringsherum umschlossen von den grünbraunen Ebenen des äußersten Randes, und diese wiederum waren umschlossen von einer lückenlosen Bergkette. Kein Mensch wusste, was oder ob überhaupt etwas hinter den Bergen lag, und so galten die Minenschächte, die in sie hineinführten, als das Ende der Welt. Jahrhundertelang hatte man immer tiefer und tiefer gegraben, getrieben von der Gier nach Schätzen zum einen, zum anderen von der Hoffnung, irgendwann einmal durch den Stein zu stoßen und die Sonne zu sehen. Doch in der Tiefe fand man keine Rohstoffe mehr, und so hatte man jeden dieser Versuche wieder aufgegeben. Als Era lebte, glaubte kaum noch jemand daran, dass es überhaupt möglich war, sich durch den Berg zu graben. Wer davon überzeugt war, galt als absonderlich. Wer es versuchte, galt als völlig verrückt. Doch Era wusste, dass es nicht verrückt war. An wolkenlosen, klaren Tagen konnte sie ihre Vorhänge öffnen, aus dem Fenster sehen und die Spitzen der kleinsten Berge in das Blau des Himmels ragen sehen. ‚Wenn ich nur jetzt, in diesem Moment, dort oben stehen würde, dann könnte ich es sehen. Ich könnte alles sehen.‘, dachte sie sich.  Sie wusste nicht, was sie sehen würde. Aber sie wusste, dass sie irgendetwas sehen müsste; irgendetwas, das hinter diesen Bergen lag; irgendetwas, von dem alle Welt glaubte, dass es gar nicht da sein könnte. Und wenn es der Abgrund der Welt sein würde, er läge ihr entblößt vor Augen, und es wäre der Höhepunkt ihres Lebens.

[…]

Unter den Linden ferner Wälder liegt buntes Laub, und der Wurm kriecht über seine Würmchen. Blatt, Stock, Stein und Erde vermengen sich mit den schweren Regentropfen, die aus der dicken Wolkendecke auf das Land donnern. Ein Riss im Himmel, ein Sonnenstrahl taucht die feuchte Luft in die Farben des Regenbogens. Nun kriecht kein Wesen mehr durch den Staub, und das Laub vermengt sich nicht länger mit der Erde. In der Hitze beginnt es langsam, sich zu erheben. Es wird hinauf in die hohen Lüfte getragen, weit fort vom stürmenden Wind, und wird getrocknet vom heißen Licht. Es fliegt durchs ganze Land, hinaus aus dem Walde und über die kargen Ebenen, vorbei an den Hütten und dem Berge entgegen. Dort trägt es sich an der nackten Steinwand hoch, in einem Kreisel, ein Windturm aus kreiselndem Laub, der bis zu den Gipfeln der kleinsten Berge reicht; und eine letzte Böe treibt die Blätter über sie hinweg.

Schlag um Schlag ließ Era den Stein bersten. Die Arbeit mit der Hacke war anstrengend und umso mühseliger für sie, die daran nicht gewöhnt war. An ihren Händen hatten sich schon nach kurzer Zeit Blasen gebildet, und mittlerweile blutete sie in das feuchte Holz des Stieles. Schlag um Schlag ließ Era den Stein bersten und fühlte den Schmerz. Es war zutiefst befriedigend.
„Du arbeitest hart!“, hörte Era einen der Männer zu ihr sagen, der nicht unweit von ihr stand. Sie hatte seinen Namen vergessen.
„Du auch“, gab sie zurück.
Und darauf folgte minutenlange Stille, einzig durchbrochen vom ständigen „Klack“ der Hacken, die auf den Stein schlugen. Irgendwann schrie jemand „Pause!“, und Era legte ihr Werkzeug beiseite und setzte sich zu den anderen, um etwas zu essen.
„Heute is‘ nix los“, sagte der Mann, der vorhin zu Era gesprochen hatte, in die Runde. „Ich find‘ heute nix.“
„Ich auch nicht“, meinte ein anderer ihm gegenüber. „Aber der Sommer insgesamt war gut.“
„Das will ich auch hoffen“, meldete sich ein Dritter. „Wir haben ja nichts anderes gemacht, haben keine Sonne gesehen in all den Tagen.“
„Die Sonne ist hier auch nicht gerade oft zu sehen“, sagte Fux.
„Ich will hier nicht mehr lange bleiben. Wenn ich fliegen könnte, wäre ich in wenigen Stunden zuhause. Ein Vogel müsste man sein“, sprach der Erste wieder.
„Vögel gibt es nicht!“, schallte es aus aller Munde.
Und dann war wieder Stille. Era konnte die Männer schmatzen hören. Im Licht der Lampen warf ein jeder von ihnen mehrere lange Schatten.
„Kennt jemand einen Witz?“, wollte Era wissen.
„Einen Witz?“, fragte Fux nachdenklich.
„Ja, einen Witz. Hab‘ schon lange nicht mehr gelacht“, sagte einer der Männer, der bis jetzt geschwiegen hatte.
Und wieder war es ruhig. Offenbar kannte niemand einen Witz.
„Würdest du erzählen, wie es dort so ist, wo du herkommst?“, sagte Era nach einer Weile und richtete ihre Frage an den Mann, der vorhin von seiner Heimat gesprochen hatte.
„Daheim ist immer schönes Wetter“, begann er freudig zu erzählen, „Und im Frühling stehen die Bäume in voller Blüte. Ich lebe in einer kleinen Hütte im Wald und bin trotzdem nicht allein. Habe dort viele Nachbarn. Und Tiere gibt es auch, Rehe und Füchse und Hasen, überall. Hier habe ich noch kein einziges Tier gesehen, seit ich angekommen bin.“
„Und jagt ihr die Tiere?“, erkundigte sich Era.
„Jagen?“, antwortete der Mann verdutzt. „Nein, wir jagen sie nicht.“
Und erneut war es still geworden. Als sich Era gerade wunderte, wann sie zuletzt die Gesprächigste in einer Runde von Leuten gewesen war, begann ein anderer zu reden.
„Bei mir daheim ist es ganz anders. Ich kenne Bäume nur aus der Ferne. Ich lebe im Flachland und bin gewohnt an Blumenwiesen und an Seen und Flüsse. Mein Herz hängt daran und ich bin froh, wieder von hier fort zu gehen.“
„Dann kommst du aus der Mitte der Welt?“, fragte Era ihn.
„So ist es“, antwortete er, und fügte leise hinzu: „Und die Leute dort sind viel netter, als hier.“
„Die haben ja auch gar keinen Grund, nicht nett zu sein“, grummelte Fux. Einige der Männer schmunzelten.
„Ich schlage vor, dass wir uns wieder an die Arbeit machen. Die Ausbeute ist mager bis jetzt“, sprach kurz darauf jener Mann, der gern ein Vogel wäre. Und alle nickten zustimmend und verschlangen die letzten Bissen.

From → Auszüge

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