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In 200 Jahren

23/01/2019

Der melancholische und kritische Grundtenor meiner Texte verrät es nicht, aber ich blicke ausgesprochen optimistisch in die langfristige Zukunft. Wer denkt, dass die Welt sich insgesamt zum Schlechten entwickelt, liegt nachweislich falsch. Die Veränderung globaler Lebensverhältnisse seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist besonders erfreulich ([1], [2]). Die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, ist drastisch gesunken; die Anzahl jener, die Zugang zu Bildung und gesundheitlicher Versorgung haben, ist im selben Maße gestiegen. Diktaturen, autokratische politische Systeme und bewaffnete Konflikte haben im besagten Zeitraum weltweit abgenommen. Wer dem demokratischen Freiheitsverständnis, einer rasant steigenden Literalität und einer schwindenden Kindersterblichkeit etwas abgewinnen kann, der wird sich gemeinsam mit mir darüber freuen, dass die Welt in den letzten 200 Jahren ein schönerer Ort geworden ist.
In oben verlinkter Studie wurde erhoben, dass nur rund 10% der Schweden, 6% der US-Amerikaner und 4% der Deutschen über diese Tatsache Bescheid wissen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, zu denen auch ein weitverbreiteter Pessimismus hinsichtlich der kurzfristigen Zukunft gehört. Die Lösung unserer dringendsten Probleme verlangt nach gewissen Voraussetzungen, die in der derzeitigen weltpolitischen Situation nicht gegeben sind. Manche Herausforderungen scheinen zu groß für die Menschheit, die den Perspektivenwechsel vom nationalen zum globalen Denken viel zu träge vollzieht und, wenn man den Reifegrad des gemeinschaftlichen Bewusstseins beurteilt, in mancher Hinsicht noch immer in den sprichwörtlichen Kinderschuhen steckt. Nachfolgende Generationen werden sich mit den Konsequenzen beschäftigen müssen.
Ich werde nun die spannende langfristige Perspektive der eingangs erwähnten Studie einnehmen und bestimmte Visionen für die Zukunft durch diese Brille hindurch beurteilen. Positiven Zukunftsvisionen haftet naturgemäß etwas Sozialromantisches und Naives an, aber das sehe ich nicht als Problem. Ich stelle sie den Visionen all jener Personen entgegen, dem Religionsfanatiker und dem Selbstzerstörer ebenso wie dem Routenschließer und dem Mauerbauer, die offenbar auch in 200 Jahren noch in einer Welt der Stacheldrähte und der isolierten Nationalstaaten leben wollen; in einer Welt, in der Prinzip und Dogma über den Menschen stehen. Die folgende Beschreibung ist vor allem präskriptiv zu verstehen. In erster Linie wünsche ich mir, dass es zu den entsprechenden Veränderungen kommt. Andererseits ist eine langfristige Zukunft der Menschheit, in der keiner der folgenden Punkte umgesetzt wurde, für mich höchstens als Dystopie denkbar. Ich sehe die politischen und sozialen Entwicklungen, die in der Studie untersucht und dargestellt werden, und führe sie in meiner Vorstellung weiter. Dann stellt sich mir nicht mehr die Frage, ob diese Veränderungen eintreffen werden, sondern nur wann:

1) Ausbau internationaler Beziehungen und Bedeutungsverlust nationaler Grenzen: In einer Welt globaler Handelsnetzwerke, globaler Migrationsbewegungen und globaler Herausforderungen ist die Isolation von Staaten und Staatenbündnissen nicht nur der falsche Weg, sie ist schlicht sinnlos. Wer etwa eine „Festung Europa“ errichtet und denkt, dass die Probleme vor der Haustüre für ihn dadurch verschwunden sind, der irrt. Die Beziehungen und daraus entstandenen Abhängigkeiten zwischen den weltpolitischen Akteuren sind dafür bereits viel zu stark ausgeprägt. Wir müssen endlich damit aufhören, diese wunderbare Chance als Problem zu begreifen. In jedem Falle ist es eine unleugbare Tatsache. Wer sich heute nicht als Weltbürger versteht, versteht die Welt nicht.
2) Ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden Bürger: Die Arbeitswelt ist Veränderungen unterworfen. Aller Voraussicht nach werden stabile und funktionierende Gesellschaften irgendwann nicht mehr darauf angewiesen sein, dass ihre Bürger unfreiwillige Lohnarbeit verrichten. Spätestens dann, wenn diese Arbeit nicht mehr notwendig ist, muss sie zum Zwecke der Maximierung individueller Freiheit aus der Gesellschaft eliminiert werden. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine mögliche Lösung für dieses Problem. In 200 Jahren wird es keine Rolle mehr spielen, wenn jemand die körperliche oder psychische Kraft für Lohnarbeit nicht aufbringen kann. Das wichtigste Ziel einer guten Gesellschaft besteht meines Erachtens gerade darin, jedem seiner Mitglieder ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Bedingungslos.
3) Absolute soziale und politische Anerkennung von Geschlechtergerechtigkeit und LGBTQ+: Gewisse Diskussionen sind bereits heutzutage müßig und der Gedanke, dass sie in 200 Jahren immer noch geführt werden könnten, mutet geradezu absurd an. Debatten um die Anerkennung der Deutungshoheit aller Menschen über ihre eigene Identität und Person gehören auf jeden Fall in diese Kategorie. Selbst manche Politiker, die einer Gleichstellung kritisch gegenüberstehen, rechtfertigen sich immer wieder damit, dass die Gesellschaft wohl noch „nicht so weit“ sei (z.B. [3]); und implizieren also, dass auch sie wissen, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handelt.
Generell wird sich der Umgang mit Menschen, die auf irgendeine Weise von der statistischen Norm abweichen, deutlich verbessern. Das betrifft auch die Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Religionen und Leuten, die aus fremden Ländern stammen. Grund für die Verbesserungen werden die Entwicklungen sein, die im ersten Punkt dieser Liste beschrieben wurden.
4) Abschaffung der Massentierhaltung: Es ist eine Sache, mit dem Blick auf die heutige Situation für eine scheinbare Notwendigkeit der industriellen Tierhaltung zu argumentieren. Dann wird über Arbeitsplätze und die steigende Nachfrage nach Tierprodukten gesprochen. Die langfristige Perspektive ermöglicht es uns, ganz andere Fragen zu stellen. Ich habe auf diesem Blog bereits öfters thematisiert, dass die industrielle Tierhaltung kein effizientes Modell zur Ernährung einer ständig wachsenden Weltbevölkerung ist. Hier stelle ich eine moralische Frage: Soll es in 200 Jahren wirklich immer noch industrielle Tötungsanlagen geben, in denen jährlich Milliarden und Abermilliarden Tiere ihr Ende finden?
Diese Frage ist deswegen so hilfreich, weil sie uns selbst von der Thematik distanziert. Wir sprechen über eine Zukunft, die uns nicht mehr betreffen wird. Ich denke, dass die meisten Menschen die obige Frage deshalb klar verneinen. Dies ist eine gute Voraussetzung für die notwendige gesellschaftliche Veränderung, die bereits begonnen hat. Im Übrigen sage ich nicht, dass am Ende dieses Prozesses eine vegane Weltbevölkerung steht und es nie wieder vorkommen wird, dass Tiere für Nahrung getötet werden. Das Schlachthaus als industrielle Tötungsanlage aber wird Geschichte sein; eines der dunklen Kapitel.

Die Zusammenstellung dieser Ziele und Visionen entspringt, wie erwähnt, meinen eigenen Wünschen für die Zukunft und orientiert sich demnach stark an jener Gesellschaft, in der ich selbst lebe. Ich sage nicht, dass diese Veränderungen überall auf der Welt auf exakt die gleiche Weise vonstattengehen werden, und ebenso wenig, dass es sich um einen stetigen Prozess ohne Rückschläge und Hindernisse handelt. Ich sage vielmehr, dass eine Fortsetzung der positiven Entwicklung globaler Lebensverhältnisse für mich nicht vorstellbar ist, wenn sie nicht von den beschriebenen Veränderungen begleitet wird. Es sind also auch Grundvoraussetzungen für eine konfliktfreie, nachhaltige Zukunft. Es sind vier Punkte, an die ich dabei zuerst gedacht habe, und die Baustellen, an denen wir meiner Ansicht nach arbeiten müssen. Über Ergänzungen freue ich mich natürlich.

Liebe Grüße
Mahiat

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