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Annus Mirabilis 2021

30/12/2020

Vor fast zwei Jahren habe ich einen Artikel über meine Sicht auf die längerfristige Zukunft veröffentlicht. Darin beschrieb ich, dass sich die globalen Lebensverhältnisse in den letzten 200 Jahren im Wesentlichen stark verbessert haben, dass extreme Armut abgenommen hat, dass viele Diktaturen und autokratische Systeme von Demokratien abgelöst wurden und dass sozialpolitische Reformen zu mehr individueller Freiheit geführt haben. An vier Beispielen erklärte ich meine Überzeugung, dass sich diese Entwicklungen in den nächsten 200 Jahren fortführen werden, und dass ich deshalb „ausgesprochen optimistisch“ in die längerfristige Zukunft blicke.
Wer das vergangene Jahr erlebt hat, muss sich sicher eingestehen, dass es wahrscheinlich kein besonders großer Schritt in Richtung blumiger Zukunftsvisionen gewesen ist. Das tut dem Optimismus im Bezug auf die nächsten 200 Jahre natürlich nicht unbedingt Abbruch. Im 19. und 20. Jahrhundert hat es neben Pandemien auch Weltkriege und andere Katastrophen gegeben, die die oben erläuterten statistischen Aufwärtstrends stets nur vorübergehend dämpfen konnten. Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass wir uns auch von der gegenwärtigen Krise rasch erholen und, wie es ständig heißt, gestärkt aus ihr hervorgehen. Dass 2021 das Jahr wird, in dem wir die Coronapandemie besiegen, und dass dann alles wieder gut wird und wir zur sogenannten Normalität zurückkehren können.

Ich teile diese Hoffnung nicht, und auch meinen langfristigen Optimismus würde ich heute etwas vorsichtiger formulieren, als noch vor zwei Jahren. Ich habe mich damals zwar in erster Linie auf sozialpolitische Themen bezogen. Aber eine gute Sozialpolitik braucht Stabilität und bestimmte ökonomische und ökologische Voraussetzungen. Jene positiven Entwicklungen der letzten 200 Jahre, die mit einer unfassbaren Beschleunigung des Wohlstandes in manchen Ländern der Welt einhergingen, konnten nur durch einen Raubbau natürlicher Ressourcen erreicht werden, nur durch eine Verschuldung jeder Generation zu Lasten der darauffolgenden. Der Klimawandel zeigt längst seine Auswirkungen, ruiniert Existenzen und fordert das Leben von Menschen und Tieren. Und doch sind wir noch Jahrzehnte vom Höhepunkt dieser Katastrophe entfernt. Es drängt sich das Bild einer Bombe auf, die von einer Generation zur nächsten weiter gereicht wird, und die Lunte wird kürzer und kürzer. Solange die Lunte lang ist, kann man vortrefflich über die Leiden der Menschheit in 200 oder auch in 100 Jahren philosophieren. Die Rücksichtnahme auf das Wohl der Ururenkel, der Urenkel, ja selbst der Enkel ist etwas Abstraktes, etwas Theoretisches, besonders wenn man selbst noch jung sind. Wenn die Lunte aber so kurz ist, dass es um die eigenen Kinder geht, wird es plötzlich ganz konkret, ganz greifbar. Und man befindet sich zum ersten Mal in der Situation, in der man fast nur pessimistisch in die Zukunft blicken kann, auch in die längerfristige. Dann ist man die erste Generation seit Jahrhunderten, die sich für ihre Nachkommen wünschen muss, sie hätten es wenigstens halb so gut wie man selbst.

Ja, 2021 soll das Jahr sein, in dem wir Covid-19 in den Griff bekommen. Die WHO warnte jedoch unlängst, dass wir uns auf schlimmere Pandemien als die derzeitige vorbereiten sollten ([1]). Die Entstehung von Infektionskrankheiten wird durch ähnliche Ursachen begünstigt wie der Klimawandel ([2]). Vieles deutet darauf hin, dass die Geschehnisse des letzten Jahres nur ein Vorgeschmack auf noch größere Krisen in der Zukunft gewesen sein dürften. Und was wir heute und morgen tun, wird Auswirkungen auf das Wohl unserer Kinder haben, auf die Welt in wenigen Jahrzehnten, und dadurch auch auf die Welt in 200 Jahren. 2021 soll nicht das Jahr sein, in dem wir zur Normalität zurückkehren. Es soll das Jahr sein, in dem wir die Lunte endlich zu löschen, bevor sie im Hals der Bombe verschwindet.

3 Kommentare
  1. hallo mahiat, ich vermute, dass du im letzten satz etwas gestrichen hast, denn er liest sich, als fehlte da etwas, um ihn verstehen zu können. eine lunte ist doch auch eher außen, als innen, oder? irgendwie erschließt sich mir dein letzter satz leider nicht. viele grüße aus berlin.

    • Hallo wolkenbeobachterin,

      es geht um die Vorstellung, dass die Lunte bereits so kurz ist, dass es nicht mehr möglich ist, sie zu löschen; etwa deshalb, weil der noch verbliebene Teil eben nicht mehr nach außen ragt. Dann hat man eine Bombe in der Hand, von der man weiß, dass sie gleich hochgehen wird. Es gibt dann nichts mehr, was man dagegen tun könnte.
      Im Bezug auf die Klimakatastrophe entspricht dieses Bild dem Überschreiten der Kipppunkte, der „points of no return“. Diese Änderungen im Klima können sich abrupt vollziehen und unumkehrbar sein. Eine solche Situation ist unbedingt zu verhindern.

      Danke für den Kommentar und liebe Grüße
      Markus

      • Hallo Markus,

        danke fürs Erläutern. Jetzt ist es klarer und ich
        verstehe nun besser. Ein bedrohliches Szenario,
        das erschüttert.

        Komm gut ins und durchs nächste Jahr,

        Liebe Grüße zurück
        M.

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