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Taube

30/04/2017

Ich drückte 40, drei Mal auf jeder Seite. Es brannte und schmerzte und tat gut in den Pausen, in denen ich durch das Fenster auf die Fassade des alten und schirchen Hochhauses auf der anderen Seite der Straße starrte. Dabei sah ich unter dem Balkon einer Wohnung in den unteren Stockwerken die Taube. Sie hatte sich in einem Netz verfangen und zappelte noch, hing kopfüber und versuchte, sich mit verzweifelten Flügelschlägen zu befreien. Frustriert machte ich meinen Satz fertig und ging zu den Hanteln.
Zehn Minuten später führte es mich wieder zurück in den Bereich, von dem aus das Hochhaus zu sehen war. Und in den Pausen musste ich aus dem Fenster sehen. Es ging nicht anders. Ich hoffte und wünschte mir, dass die Taube verschwunden war. Doch sie hing immer noch im Netz und bewegte und regte sich und kämpfte den Todeskampf. Ein Mensch hätte sie vom Balkon aus in wenigen Sekunden befreien können; vom Balkon irgendeiner Wohnung auf irgendeinem Stockwerk eines riesigen Hochhauses. So einfach, so aussichtslos. Ich packte rasch mein Zeug zusammen und verließ das Studio.
Der Eingang war auf der anderen Seite des Blocks. Als ich vor verschlossener Türe stand und überlegte, wo ich klingeln sollte, verließ eine Bewohnerin das Haus und ich trat hinter ihr ein. Eine Mamortreppe führte mich hinauf bis zu jenem Geschoß, das ich für das richtige hielt. Drei Wege verliefen von dort aus in verschiedene Richtungen, und ich irrte ohne Orientierung umher. Bei welcher Wohnung sollte ich läuten, was sollte ich sagen?
„Hallo, könnten Sie bitte nachsehen, ob auf Ihrem Balkon ein Vogel stirbt?“

Seither schaue ich der Taube beim langsamen Verwesen zu. Jedes Mal, wenn ich im Studio bin, ist sie dünner. Jedes Mal hängt sie noch tiefer durch das Netz. Ich muss aus dem Fenster sehen. Es geht nicht anders. Dabei bin ich mir sicher, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der um sie weiß. „Dumme Taube.“, denke ich mir dann. „Hätte ich dich doch nie gesehen.“

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