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Zur Mathematisierung der Wissenschaften

20/01/2012

Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.“ – Kant

Die Mathematik muss als Formalwissenschaft von den Naturwissenschaften in vielerlei Hinsicht unterschieden werden. Im Laufe der Geschichte hat sie den Beinamen „Königin der Wissenschaften“ erlangt. Den Grund dafür sollte man nicht, wie es oft getan wird, in einer vermeintlichen interdisziplinären Überheblichkeit jener suchen, die Mathematik betreiben, sondern vielmehr darin, dass sie in diesem Sinne, als „Königin“, jeder erdenklichen Wissenschaft eine nützliche Dienerin ist.

In der Wissenschaftsphilosophie wird häufig die Ansicht vertreten, dass eine Naturlehre umso ausgereifter ist, je mehr ihrer Theorien durch mathematische Systeme, Modelle und Sprache beschreibbar sind. Gestützt wird diese Sichtweise darauf, dass die Naturwissenschaften gewöhnlich einen umso höheren Grad an Mathematisierung aufweisen, je älter und erprobter sie sind. Ein Beispiel dafür wäre natürlich die Physik. Ein Beispiel für eine jüngere empirische Disziplin, die auf weiten Teilen noch nicht mathematisiert ist, wäre die Psychologie.
Diese Überlegung fußt auf einer gewissen Voraussetzung. Es wird davon ausgegangen, dass sich Naturphänomene grundsätzlich durch die mathematische Sprache beschreiben lassen, dass ihnen also eine Berechenbarkeit oder eine strukturierte Kausalität zugrunde liegt. Je jünger nämlich die Lehre ist, desto weniger klar sind die darin untersuchten Verhältnisse und Zusammenhänge, und wenn es an Klarheit in einer Sache fehlt, dann ist es unmöglich, die gnadenlose Exaktheit der Mathematik darauf anzuwenden.

Die Mathematiker hingegen sind darauf bedacht, ihre formalen Systeme und Modelle möglichst abstrakt zu halten. Intuitiv scheint es vielen Menschen so, als wäre die Mathematik wegen ihres hohen Abstraktionsgrades für nichts zu gebrauchen. Tatsächlich ist es eben gerade umgekehrt: Genau darin liegt ihre Stärke. Abstrahierung ist nichts anderes als die Freiheit von Einschränkung. Und so wird sich ihre Nützlichkeit auch jungen Disziplinen eröffnen, in denen bekanntlich äußerst großes Potential steckt.
Als angehender Mathematiker bin ich an der Anwendung weniger interessiert als an der reinen Theorie. Meine Freude am Abstrakten zeigt mir, dass ich in der Formalwissenschaft gut aufgehoben bin. Es gab in der Geschichte der sogenannten Philosophie der Mathematik das (leider gescheiterte) Bestreben, die Mathematik ganz auf die reine Logik zu reduzieren (Logizismus). Dass Mathematik und Logik, deren Sätze von größter Gewissheit sind, in einem solchen Ausmaß verwandt sind, ist der Grund dafür, dass hohe Mathematisierung in Zusammenhang mit hoher Berechtigung zum Wahrheitsanspruch steht (siehe dazu auch Zur Wahrheit).

Ich kann mich der in diesem Artikel dargestellten Position auf jeden Fall anschließen. Auch die gemachte Voraussetzung halte ich für unproblematisch. Die Menschen nennen übersinnlich, was sie frei von erkennbaren Ursachen glauben, was ihnen mystisch vorkommt, was sie nicht verstehen. Doch vertritt kein Naturwissenschaftler die Einstellung, dass etwas, das der Mensch (noch) nicht versteht, auch gewiss nicht verstanden werden kann. Diese Sichtweise ist kontraproduktiv und entspricht erfahrungsgemäß nicht der Wahrheit. Es kann Phänomene in dieser Welt geben, die wir vielleicht niemals erklären können, und dennoch müssen wir entsprechend unserer Kenntnisse eines kausalen Universums davon ausgehen, dass sie auf irgendeine Weise funktionieren. Als Schlusssatz bleibt eine beinahe triviale Erkenntnis: Je besser wir verstehen, wie etwas funktioniert, desto exakter können wir es beschreiben.

Liebe Grüße,
Mahiat

4 Kommentare
  1. Zum letzten Absatz kann ich sagen, dass die Menschen ja unter anderem deswegen auf Religionen gekommen sind, weil sie sich die Dinge nicht erklären konnten und sie somit übernatürlich sein mussten. Eigentlich haben die Wissenschaften Religionen inzwischen belanglos gemacht, aber die helfen vielen eben, „gute“ Menschen zu sein oder ihre Hoffnung nicht zu verlieren.

    Aber wo braucht man in der Psychologie denn Mathematik? Ich kann mir das nicht vorstellen, höchstens als Statistiken, die zum Beispiel zeigen, bei welchen mentalen Leiden welche Methoden am besten geholfen haben. Aber sonst…?

  2. Hierzu ist noch einmal die im Artikel erwähnte Voraussetzung von Nöten: „Es wird davon ausgegangen, dass sich Naturphänomene grundsätzlich durch die mathematische Sprache beschreiben lassen, dass ihnen also eine Berechenbarkeit oder eine strukturierte Kausalität zugrunde liegt.

    Auch psychische Phänomene sind Naturphänomene, die man beobachten, untersuchen und hervorrufen kann. Es handelt sich um elektrische Signale, um Reizimpulse, neuronale, biochemische Vorgänge. Es ist möglich, mittels Medikamente und Drogen gewisse psychische Zustände tatsächlich zu „verabreichen“. Wir können bereits heute sagen, wie Liebe und viele andere Gefühle als neuronale Phänomene entstehen und was jeweils dafür von Nöten ist. Wir wissen schon sehr viel darüber, wie die Psyche im kausalen Sinne funktioniert.

    Meine feste Überzeugung ist: Psychische Phänomene werden, wenn wir sie erst in ausreichendem Maß verstanden haben, ebenso berechenbar und mathematisch beschreibbar sein, wie physikalische Phänomene.
    Dieses Prinzip lässt sich auf alle Naturwissenschaften übertragen. Vielleicht erkennst du die Parallelen, die sich hier zum kausalen Determinismus ziehen lassen. Der Kausalität liegt eben diese mathematische Eindeutigkeit der (theoretischen) Berechenbarkeit zugrunde, wodurch sie das Geschehen bestimmt.

    Liebe Grüße

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