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Der Ernst des Lebens

24/09/2011

„Was soll das werden?“
Henrys Stimme zitterte. Er stand wenige Schritte von Phil entfernt und spürte, wie die Angst ihm die Kehle zuschnürte und Atmen und Sprechen erschwerte.
„Ich genieße die Aussicht. Ich bin gerne hier, das weißt du doch.“
Phil sprach ruhig und sicher. Er wirkte gefasst, und sein ernster Blick war auf den Horizont gerichtet, den die Sonne rot gefärbt hatte.
„Du verstehst es, zu scherzen, mein alter Freund, so wie immer.“, antwortete Henry. Er versuchte, sich zu beruhigen, und fuhr fort. „Wir kennen uns, seit wir kleine Kinder waren. Wer sollte denn besser wissen, was du fühlst, als ich?“
Phil erwiderte so leise, dass Henry einen Schritt auf ihn zu machte, um ihn besser verstehen zu können.
„Niemand weiß, was ich fühle, und niemand kennt meine Gedanken. Wie denn auch? Keiner ist Sklave dieses Kopfes, keiner ist Gefangener dieses Körpers, nur ich. Wer soll denn wissen, welche Schmerzen ich fühle? Wer glaubt, sich einzubilden, dass er die Umstände versteht oder nachvollziehen kann? Wer nicht dieselben Qualen spürt, wer nicht das gleiche Leben lebt, der kann mich nicht begreifen, und also kann kein Tier, kein Mensch, kein Gott mich je begreifen. Ich bin allein, alleingelassen. Lass mich allein.“

Henry wusste sich nicht recht zu helfen. Er verstand hiervon nicht viel, und dennoch spürte er, dass ihm die Zeit davonlief. Er durfte keine Fehler machen.
„Du bist nicht schwach, Phil. Ich weiß, welche Lasten du tragen kannst. Wieso glaubst du, dass du der Situation nicht mehr gewachsen bist?“
Phil schien des langen Redens müde. Sein Gesicht hatte einen seltsamen Ausdruck angenommen. Henry schwant Böses.
„Nenn mich stark, oder schwach, es soll mir gleich sein, was du, oder was andere von mir denken, denn ich habe bereits festgestellt, dass ihr ja doch keine Ahnung von den Dingen habt, von denen ihr redet.“
Henry wusste erneut nicht, ob er Phil richtig verstanden hatte. Er erkannte seinen Freund nicht wieder und geriet nun aus der Fassung. Auf Phils warnenden Blick hin, der ihn bis zu den Knochen durchdrang, ging er jedoch wieder einen Schritt rückwärts, und begann erneut zu sprechen, nun wieder mit zittriger Stimme.
„Du wirst doch gebraucht Phil, und vor allem geliebt. Du kannst uns doch den Schmerz nicht antun, dich zu verlieren.“
Nun schnaubte sein Gesprächspartner verächtlich.
„Ich höre doch, wie ihr über mich redet, ich weiß doch, dass ich euch der schlimmste Klotz am Bein bin. Ich bin für euch nur Bürde, die euch Kraft raubt und euch unglücklich macht. Was soll ich mit eurer Liebe, mit der ihr mich vergiftet, mit der ihr mich vom Unausweichlichen fernzuhalten versucht? Den Kranken, der ich bin, würdet ihr gern geheilt sehen, und lastet mir es auf und nehmt es mir übel, dass ich mich nicht selbst kuriere? Was fühl’ ich, wenn ich euch täglich lachen sehen muss und es selbst nicht kann? Weißt du, was ich fühle? Ich fühle Schmerzen, und Leere, und sonst fühl’ ich nichts. Und ich denke an ihn, wie er war, wie sein Lachen gewesen ist, und der Schmerz droht, mir die Brust zu zerreißen, und würde aus mir ein heulendes Scheusal machen, wenn ich denn weinen könnte.“

In der Ferne waren nun Sirenen zu hören. Henry hoffte auf Unterstützung und versuchte also nun, Zeit zu gewinnen.
„Simons Tod war nicht deine Schuld, Phil, bitte sei vernünftig.“
Doch schon in der nächsten Sekunde wünschte er, er hätte diese Worte nicht gesprochen. Phil machte einen Schritt vorwärts. Die Vorderspitze seiner Schuhe ragte nun über den Beton hinaus.
„Was tut’s zur Sache, wessen Schuld es war, oder wie es überhaupt passierte, du beneidenswerter, nichtsahnender Narr? Mein Sohn ist tot, meine Frau des Wahnsinns, und niemand versteht, welche Gespenster mich seither verfolgen und heimsuchen, nachts, und tagsüber, zu jeder Stunde. Ich soll mich meiner Vernunft bedienen? Ich habe keine mehr, die Gespenster haben sie verscheucht, haben sie zum Knecht gemacht. Meine Gedanken kreisen, Henry, sie kreisen, und der Kopf tut mir weh. Ich will, dass es aufhört.“
Die Sirenen wurden lauter, und damit Henrys Hoffnung größer. Er überlegte, gar nichts mehr zu sagen, doch befürchtete sogleich, dass die Stille Phil zum Sprung verleite. So fand er, dass er antworten musste, und hoffte auch, dass es nicht das Falsche sei.
„Ich versuche, zu verstehen, doch du machst es mir nicht leicht.“ Er stockte, doch Phil reagierte nicht. „Steig herunter und lass uns über deine Sorgen und Ängste reden, lass mich dich anhören. Dir passierten die schrecklichsten Dinge, mein Freund, und es tut mir so Leid, dass dir der Ernst des Lebens so mitspielt.“
„Ernst des Lebens?“ Phil fiel ihm ins Wort und wirkte plötzlich sehr nachdenklich. „Ernst des Lebens, sagst du… Ich habe mich immer gefragt, was man wohl damit meinen mag. Ich verstehe nicht, warum die Menschen jede Kleinigkeit so ernst nehmen, wenn doch das Wichtigste im Leben nur die geliebten Menschen sind.“
Phil machte eine kurze Pause, und Henry hielt den Atem an.
„Weißt du, Henry, du wirst mich nicht verstehen, aber ich behaupte, dass es den Ernst des Lebens nicht gibt. Den Ernst des Sterbens, ja, den mag es geben.“

Und mit diesen Worten machte er seinen letzten Schritt und fiel, den Blick auf die untergehende Sonne gerichtet, und das letzte, das er hörte, war der Klang der nahen Sirenen in seinen Ohren.

6 Kommentare
  1. Anonymous permalink

    Die Tags ^^

    Glaubst du, dass du auch etwas „Fröhliches“ schreiben kannst? Oder bedingt der neutral bis negative Ton dein Schreiben?

  2. Tiefsinnige, ergreifende Geschichte, deren Spannung sich immer mehr steigert. Gefällt mir außerordentlich gut!

  3. Hey,
    die Fragen sind nicht sonderlich leicht zu beantworten. Tristesse ist gewiss ein bestimmendes Thema meiner gesamten Prosa. Ich würde jedoch nicht sagen, dass meine gesamte Schreibe einzig und allein davon abhängt. Meine Texte sind zwar wohl selten Boten ungetrübter Fröhlichkeit, aber ich denke, dass ich zumindest von Lustigem und Humorvollem zu schreiben wüsste, würde ich das beabsichtigen. Vielleicht findet sich Derartiges auch einmal auf diesem Blog. : )

    Liebe Grüße,
    Mahiat

  4. An Marianne: Danke für das große Lob. : )

  5. Eine traurige und sehr ergreifende Geschichte, die unter die Haut geht. Man merkt, dass Sie die Gabe haben, sich vollständig in die innere Welt Ihrer Protagonisten hineinzuversetzen.

    Ich finde, es macht nichts, dass Sie einen Hang zu traurigen Geschichten haben, denn es gibt etwas von Ihrer Persönlichkeit preis. Diese nachdenklichen, philosophischen Züge, die Sie in sich tragen, schenken Ihnen eine innere, tief liegende Weisheit, die Sie veranlassen, diese Geschichten zu schreiben, um sich selbst, die Sprache Ihrer Seele zum Ausdruck zu bringen. Ich finde es beeindruckend, wie Sie Gefühle der inneren Welt, die für viele Menschen selbst ein Leben lang im verborgenen bleiben, in Worte kleiden. Hut ab!

    Gruß,
    Sunelly Sims

    • Hallo Sunelly_Sims,

      es freut mich, dass Sie auf meinen Blog gestoßen sind. Danke für Ihre Kommentare und Ihr großes Lob.

      Liebe Grüße

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