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Lernen ohne Noten

20/02/2018

Die Ausbildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen in staatlichen Institutionen unterliegt Prinzipien und Strukturen, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte im Wesentlichen unverändert geblieben sind. Unsere Gesellschaft trennt sich – allen pädagogischen und didaktischen Erkenntnissen und PISA-Studien zum Trotz – nur ungern von Traditionen und Gebräuchen. Das gilt insbesondere im konservativen Österreich und in diesem Falle umso mehr, da ja die meisten von uns in jungen Jahren im Rahmen dieses Bildungssystems erzogen worden sind und besagte Prinzipien als unzweifelhafte Dogmen mit der Muttermilch aufgesogen haben. Personenkritik ist hierzulande beliebter als Systemkritik, weshalb den Lehrkräften nur allzu gerne die Schuld für bestehende Probleme zugeschoben wird. Die Vorstellung einer Schule ohne Stundenplan, fixe Lernziele oder Noten liegt einem überwiegenden Teil der Bevölkerung hingegen fern. Bildungseinrichtungen, in denen derartige Konzepte umgesetzt werden, werden oftmals belächelt.
Noten sollen Kinder auf den Druck in unserer Leistungsgesellschaft vorbereiten, so ein Kernargument der Verteidiger traditioneller Bildungsstrukturen. Gleich zwei Punkte sind daran auszusetzen. Zum einen wird der Leistungsdruck bei dieser Argumentation vorausgesetzt und hingenommen, als wäre er eine unumstößliche soziale Tatsache. Vielmehr handelt es sich dabei um einen höchst problematischen Aspekt unseres Zusammenlebens, der sich eben gerade durch eine andere Erziehung lösen ließe. Zum anderen manifestiert sich im Ziffernnotensystem eine gnadenlose Quantifizierung des Erfolgs, die selbst in unserer Leistungsgesellschaft ihresgleichen sucht. In wenigen Berufen ist man dem Feedback durch Vorgesetzte in einem vergleichbaren Ausmaß ausgesetzt wie den regelmäßigen Zensuren in der Schule oder auf der Uni. Ohne derartige Rückmeldungen selbstverantwortlich zu arbeiten und dabei gute Leistung zu erbringen, das ist eine Kompetenz, die junge Menschen in unseren Bildungseinrichtungen definitiv nicht erwerben.
Wie Bildung und Erziehung von Kindern in Schulen idealerweise gestaltet werden soll, ist natürliche eine ausgesprochen schwierige Frage. Dass aber die Beurteilung mit Ziffern in den ersten Schuljahren in jedem Falle überflüssig ist, zeigt der internationale Vergleich. In Norwegen und anderen skandinavischen Ländern, die in den Bildungsstudien üblicherweise gute Ränge belegen, wird erst ab der achten Klasse benotet. Nichtsdestotrotz hat unsere frisch gewählte Bundesregierung vor, verpflichtende Zensuren auch für die Volksschule wieder einzuführen. Zu bemerken ist dabei, dass die Wahlfreiheit in dieser Angelegenheit für die Schulen erst seit 2016 bestand. Der Vorstoß seitens ÖVP und FPÖ hat, wie so manches in ihrem Regierungsprogramm, keinen vernünftigen Anlass.
Ein ausführliches Gespräch mit der Lehrkraft bietet im Regelfall eine differenziertere Rückmeldung über die Fortschritte des Kindes als eine banale Ziffer im Zeugnis. Was macht Noten also überhaupt attraktiv? Durch sie wird es einfacher, das eigene Kind in einen Vergleich zu stellen; zu den anderen Kindern, zu den Geschwistern, zu sich selbst. Der eingangs erwähnte Leistungsdruck hat uns an derartige Vergleiche gewöhnt, wir haben gar ein Bedürfnis nach ihnen entwickelt. Zensuren befriedigen es auf eine Weise, wie es eine inhaltliche Rückmeldung niemals könnte. Mit dem Notensystem leiten wir unsere Kinder ab ihrem sechsten Lebensjahr an, ebendieses Bedürfnis auszubilden und es mithilfe von guter Leistung zu befriedigen oder beim Versuch zu versagen. Das Bildungssystem ist, in seiner jetzigen Form, der Katalysator unserer pervertierten Leistungsgesellschaft.

Ich habe meine Rigorosen nun hinter mir und mittlerweile auch den Bescheid erhalten, dass ich alle Voraussetzungen für eine Promotion sub auspiciis praesidentis erfülle. Ich bin mit großem Erfolg durch eben jenes System gegangen, das ich hier so vehement kritisiere. Umso mehr ist es mir ein Anliegen zu betonen, dass ich heute nicht wegen, sondern trotz des auf Leistung ausgerichteten Bildungssystems Mathematiker bin. Der ständige Notendruck konnte mir, im Gegensatz zu tausenden anderen Jugendlichen in Österreich, meine Neugierde und die Freude am Lernen nicht nehmen. Dazu kamen einige hervorragende Lehrkräfte an meiner Schule und der Uni. Nichtsdestotrotz weiß ich, dass ich in einem anderen Bildungssystem besser gediehen wäre. Ich wäre nicht unbedingt leistungsfähiger gewesen, aber ich hätte mich wohler gefühlt. Dass sich mein Unbehagen in der Schule nicht auf meinen Lernerfolg auswirkte, war Glück für mich; unzählige andere haben dieses Glück nicht.

Liebe Grüße
Mahiat

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