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Der Judennazi

20/02/2012

„Herr Obmann, ihre Rede soll beginnen.“
„Ich bin fertig.“
Ein letzter Blick in den Spiegel, die Krawatte sitzt.
Anständig. Gerade stehen.
Der Obmann wollte lächeln, ging aber mit ernster Miene auf die Bühne und trat unter Applaus vor das Podest. Ein freudiger Anlass war es, der Ballsaal, der war reich geschmückt. Doch des Obmanns Augen wanderten langsam über die Menschenmenge und übersahen all den Prunk.

„Die halbe Welt feindet uns an!“,  schrie er in das Mikrophon, und der Applaus legte sich. Kurz wartete er, dann holte er Luft. „Die halbe Welt feindet uns an und wundert sich, warum wir die Welt zum Feinde haben? In meinem Leben bin ich niemals Feind gewesen, nur Freund allein von jenen, die mit mir dasselbe Schicksal teilen. Und diesem Schicksal fühle ich mich verpflichtet! Sterben würde ich, für dieses Schicksal!“

Der Obmann spürte, wie sein Kopf bebte. Seine rechte Hand zitterte, und alle klatschten.

„Und jedem, der mir schaden will, oder der euch schaden will, oder einem unserer Brüder, dem sei hiermit der Krieg erklärt!“

Und alle klatschten.

„Ich lasse mich nicht mundtot machen von den Linken, von Antidemokraten oder von rassistischen Minderheiten! Das Volk glaubt, was ich für die Wahrheit halte… und ihr, ihr glaubt es auch.“

Der Obmann lachte kurz auf, einige wenige Ballgäste wechselten fragende Blicke. Ein leiser Applaus war zu vernehmen.

„Liebe Freunde, wir müssen erleben, dass man uns der Lüge bezichtigt. Sind wir das, Lügner? Haben wir nicht oft gelogen?“

Nun war es ganz still.

„Oder logen nicht vielmehr die, die uns einreden wollten, dass andere Kulturen unser Land bereichern würden? Logen nicht die, die uns ins Gewissen redeten, um in uns eine falsche Solidarität jenen gegenüber zu wecken, mit denen wir gar nichts gemein haben?“

Jetzt schrie der Obmann.

„Logen sie nicht, diese falschen Hunde, diese Verräter, die unser Land zugrunde richteten, logen sie nicht?“

Der Saal tobte im Applaus, einige standen auf. Der Obmann wartete und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Kurz war er ganz in sich gekehrt und nachdenklich. Der Lärm legte sich, und mit ausschweifender Gestik fuhr der Obmann fort.

„Natürlich logen sie! Keineswegs verpflichtet uns unser Reichtum zu einer internationalen Solidarität. Ob Kinder verhungern oder Frauen gesteinigt werden, es kann uns egal sein, immerhin ist das hier unseres Blutes Boden!“

Schlagartig war es leise, doch es war nicht dieselbe Stille wie zuvor, es war eine erregte, geladene Stille.

 „Was auch immer in dieser Welt passiert, so soll’s uns nicht berühren, denn wir sind ja hier geboren. Wer auch, von Übel geplagt, kommen möchte und um Hilfe fragen, mag sich die Reise sparen, denn wir wollen allein sein im Paradies. Und hier zu sein, ein Privileg, das wir bei unserer Geburt durch Zufall erworben haben, daran knüpfen wir den ganzen Wert unserer Persönlichkeit. Warum nicht? Warum sollen wir das nicht tun? Sind wir nicht alle recht glücklich in dieser Einfältigkeit? Sind wir nicht stolz?“

Der fragende Gesichtsausdruck des Obmanns ließ viele Ballbesucher willkürlich den Kopf schütteln.

 „Und was dem modernen Zeitgeist des kulturellen und philosophischen Fortschrittes entspricht, aber nicht unseren festgefahrenen Vorstellungen, das lehnen wir ab. Die neue Welt, sie ist so schwer zu verstehen, da hätt’ man gern die alte wieder! Was es nicht alles gibt, worüber wir uns ärgern müssen! An allem häng’ ich mich auf, und das Herz wird mir schwer, weil ich nichts weiß. Jetzt tu’ ich so, als würd’  ich’s wissen.“

Stimmen aus dem Publikum wurden lauter, manche senkten den Kopf, standen auf und gingen.

 „So viele Menschen gibt es, die mir missfallen, weil sie nicht so sind wie ich. Und wer anders ist als ich, den mag ich nicht versteh’n. Der eine ist schwul, der zweite ein Muslim, der dritte spricht die Sprache nicht, der vierte ist seltsamer Meinung. Findet ihr sie nicht schrecklich, diese Welt, schrecklich kompliziert? Entartet! Kann sie nicht einfach sein?“

Nun standen alle schon und gingen aus dem Saal. Es war sehr laut, und so schrie der Obmann ihnen nach.

 „Wo geht ihr hin? Was wird von mir erwartet, dass ich sage? Was wollt ihr hören, ihr, die ihr an meinen Lippen hängt? Da erzähl’ ich euch nur Lügen, und sag’ ich einmal die Wahrheit, wendet ihr euch von mir ab. Was wollt ihr hören? Dass wir, die Täter, eigentlich Opfer sind, weil man uns für unsere feindselige Gesinnung bekämpft? Dass jede Kritik an unserer Weltsicht unerhört ist? Dass es furchtbar ist, wie man uns behandelt? Dass wir kämpfen müssen? Gefällt sie euch, die Vorstellung vom Krieg? Warum klatscht ihr nicht? Verfolgt werden wir, töten will man uns, meine Kameraden! Wir sind die neuen Juden!“

Doch der Obmann war bereits allein im Saal.

 „Ich kann euch vielleicht, aber nicht mich belügen.“

Er machte kehrt und ging.

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