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Zum Egoismus

20/05/2012

Ich habe mich mit dem Text „Eigeninteresse und allgemeines Wohl“ des von mir hochgeschätzten Mathematikers und Philosophen Bertrand Russell befasst, in dem er den Egoismus und alle erdenklichen Auffassungen davon kritisiert. Seine wichtigste These lautet, dass die Ansicht, wonach alle Menschen mit psychologischer Notwendigkeit immer und ausschließlich ihr eigenes Wohl verfolgen, mit unserer Erfahrung und unserem Wissen über die menschliche Natur nicht vereinbar ist. Diesem Punkt kann ich mich anschließen. Auch seine Schlussfolgerung, wonach in Situationen, in denen das Eigeninteresse in Konflikt mit dem allgemeinen Wohl gerät, stets eine Handlung zugunsten des allgemeinen Wohles gesetzt werden sollte, finde ich ansprechend. Allerdings möchte ich mich in diesem Blogbeitrag nun einmal genauer mit einem Thema beschäftigen, das ich in „Zur dritten Welt“ bereits kurz angesprochen habe.

„In der Triebhaftigkeit aller Lebewesen liegt der Grund dafür, dass es uns schlichtweg nicht möglich sein kann, eine altruistische Handlung zu setzen, in deren Motivation sich nicht irgendeine völlig offenkundige oder zumindest von egoistischer Hoffnung genährte Absicht, oder ein fehlgeleiter Irrglaube finden ließe, selbst einen Vorteil daraus zu ziehen.“, das habe ich in oben verlinktem Artikel geschrieben. Ich möchte zuallererst eine klare Unterscheidung treffen bezüglich der Motivation einer Handlung und ihrer Folgen. Eine Handlung kann Folgen haben, die das Wohl anderer befördern, die das eigene Wohl befördern oder die sowohl das Wohl anderer als auch das eigene befördern. Ein Motiv einer Handlung ist egoistisch, wenn der Handelnde damit beabsichtigt, sein eigenes Wohl zu befördern, und altruistisch, wenn der Handelnde damit beabsichtigt, das Wohl anderer zu befördern. Wir sehen, dass eine egoistisch motivierte Handlung rein altruistische Konsequenzen haben kann, und umgekehrt, dass diese Unterscheidung also notwendig ist, weil kein unmittelbarer Zusammenhang besteht.
Nun gebe ich Russell wie erwähnt Recht, wenn er meint, dass wir nicht ausschließlich egoistisch motiviert handeln. Den meisten Menschen liegt etwas am Wohlergehen anderer, die wenigsten sind nur auf sich selbst bedacht. Für mich interessanter ist die Frage, ob es irgendeine Handlung gibt, die ein Mensch zu setzen in der Lage ist, ohne dabei auch nur ansatzweise an sein eigenes Wohl zu denken, ob es also irgendeine Handlung gibt, die ein Mensch durchführen kann, während er gleichzeitig frei ist von jedem egoistischen Motiv. Können wir rein altruistisch, absolut selbstlos handeln?
Warum ich der Meinung bin, dass wir dazu nicht in der Lage sind, erkläre ich am besten anhand der Definition des Begriffes „Mein Wohl“, die Russell im Text vorgenommen hat. Er unterschied zwischen (1) Dingen, die wir begehren, und (2) Dingen, die wir begehren, und die darüber hinaus noch in einer anderen Beziehung zu uns stehen. Russell sagt, dass es Dinge gibt, die (1) entsprechen, die wir also begehren und die sonst in keiner Beziehung zu uns stehen. Demgemäß könnten wir uns das Wohl anderer wünschen, ohne uns einen Vorteil davon zu versprechen. Dem steht mein Standpunkt gegenüber. Ich denke nicht, dass es Dinge gibt, die wir begehren und die sonst in keinem Bezug zu uns stehen. Diese Überlegung wurzelt in meiner Wertetheorie, nach der kein Ding von sich aus wertebehaftet ist und jede Wertung einen Wertenden als Bezug braucht. Ebenso ist kein Ding von sich aus begehrenswert. Derjenige, der es begehrt, tut dies aus der Überzeugung, aus der Hoffnung oder aus dem Irrglauben heraus, dass die Erlangung zweckmäßig, also von Vorteil ist, und zwar nicht nur für andere, sondern, was der Punkt ist, auch für ihn selbst. Dieser Vorteil, den der Begehrende sich bewusst oder unbewusst, hoffend oder in falschem Glauben verspricht, muss nicht die alleinige Ursache des Begehrens sein, allerdings gibt es kein Begehren ohne tatsächlichem oder scheinbarem Vorteil, der dahinter steckt oder stecken kann.
Die weitere Diskussion lässt sich also auf folgende Frage reduzieren: Können wir etwas begehren, von dem wir uns keinen Vorteil irgendwelcher Art versprechen? Betrachten wir ein Beispiel: Stellen wir uns eine Situation vor, in der wir über das Schicksal von tausenden Wesen in einer entfernten Welt entscheiden könnten. Es läge gänzlich in unserer Hand und wir bräuchten nicht mehr zu tun, als ein Wort zu sprechen, um alle glücklich zu machen. Hier sieht man sehr schnell, dass der Vorteil auch darin bestehen kann, keinen Nachteil zu erleiden, und sei er noch so gering. Denn selbst, wenn wir diese Wesen nie sehen würden, ja selbst, wenn wir nach der Handlung sofort vergessen würden, was gewesen war, und niemals wieder daran erinnert werden würden, so können wir im Moment des Entscheidens nur mit einer einzigen Lösung glücklich sein, nämlich der, das Schicksal dieser Wesen so schön wie möglich zu gestalten. Zumindest ein Grund dafür, dass wir diese Entscheidung treffen, liegt darin, dass allein die Vorstellung von glücklichen Wesen uns selbst glücklich macht, während die Vorstellung von leidenden Wesen uns selbst leiden lässt. Umso mehr hat das in realistischeren Situationen Geltung, wenn die Erfahrung des Glücks und des Leids anderer Wesen über bloße Imagination hinausgeht, wenn wir beispielsweise mitansehen, wie es anderen aufgrund unserer Handlungen ergeht.

Russell schreibt richtigerweise, dass es nicht wahr ist, dass wir mit psychologischer Notwendigkeit egoistisch motiviert handeln. Jedoch wählen wir mit psychologischer Notwendigkeit stets jene Handlung, von der wir uns das höchste Glück erwarten. Und da wir nur unser eigenes Glück zu messen in der Lage sind, ist es auch stets ein notwendigerweise vorhandenes Kriterium, wenn auch von unterschiedlich wichtiger Bedeutung. In Beispielen der Selbstaufopferung von Menschen spielen Kriterien des Gewissens oder gesellschaftlicher Achtung beziehungsweise Missachtung eine entscheidende Rolle. Selbst wenn jemand alle seine Handlung nach altruistischen Maßstäben ausrichtet, so tut er es zumindest unter anderem deswegen, weil er dies für richtig hält. Menschen sind bekannterweise glücklich, wenn sie ein Leben in Übereinstimmung mit ihren Vorstellungen vom Guten führen, und unglücklich, wenn sie dies nicht tun. Auf diese Weise befördern wir bei beinahe selbstlosen Handlungen stets auch unser eigenes Wohl, selbst wenn der überwiegende Teil der Motivierung altruistisch ist.
Wir sollten uns vor Augen halten, dass diese Erkenntnis für die Diskussion um die Berechtigung einer egoistischen Lebensweise keine große Rolle spielt. Egoistische Menschen, also Leute, die ausschließlich egoistisch motiviert handeln, haben zumeist nicht verstanden, dass sie dadurch selbst nicht glücklich werden können. Die Gründe dafür sind hier bereits angeführt: Gewissensbisse, gesellschaftliche Missachtung, Erfahrung des selbstverschuldeten Leides anderer, Leben im Widerspruch zu den eigenen Vorstellungen… Altruistisch zu handeln befördert das meiste Glück; und dass wir dies unter anderem auch immer in persönlichem Interesse tun, finde ich nicht problematisch.

Liebe Grüße,
Mahiat

From → Betrachtungen, Ethik

2 Kommentare
  1. shobeazz permalink

    Hi!

    Schöne Analyse, sehe ich genauso. Ich nehme an, daß man da auch eine inhaltliche Nachbarschaft zur „Freier Wille“-Diskussion sehen kann… insofern, daß man ja nun immer „etwas“ will, also immer von einer Motivation angetrieben wird (die man eben auch als Egoismus im weitesten Sinne bezeichnen kann), ein absolut freier Wille wäre aber ziel- und motivationslos, er würde quasi einfach so vor sich hin „wollen“, und das ist für mich schwer vorstellbar.

    soviel mal in Kürze dazu, ansonsten: sehr interessanter Blog, ich kenne wenige 20jährige, die so, hm, „erwachsen“ und reflektiert rüberkommen 🙂

    • Hallo shobeazz,
      Danke für deinen Kommentar. Ich kann gut nachvollziehen, was du sagen willst, und sehe ebenso wie du eine Verwandtschaft dieser Diskussionen. In meinem Buch schreibe ich: „Wie unser Wille unmöglich frei sein kann von Ursachen, kann unser Handeln nicht frei sein von Eigennutz. Wir können uns selbst nicht überwinden.“
      Wir können nichts denken und nichts tun, das von unseren Trieben und Wünschen und von all den anderen psychischen Phänomenen, mit deren Hilfe wir wahrnehmen und ein bewusstes Leben führen, losgelöst wäre.

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