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Zur dritten Welt

10/03/2012

Obwohl ich sehr beschäftigt bin, habe ich gestern bemerkt, dass sich seit ein paar Tagen ein Video namens „KONY 2012“ im Netz verbreitet. Über den Inhalt des Films und über die Herkunft, Machart, Glaubwürdigkeit und Seriösität desselben mag ich nicht sprechen, denn für das, was ich in diesem Artikel sagen will, ist das unerheblich. Interessant sind für mich die unterschiedlichen Reaktionen, die KONY 2012 hervorgerufen hat. Es ist nicht etwa so, dass diese absonderlich, überraschend oder unerwartet gewesen wären, aber genau deswegen kann man an diesem Beispiel gut diskutieren, mit welcher Machtlosigkeit wir reagieren, wenn wir vor unserem Computer sitzen und uns mit Leid konfrontieren, von dem uns, im wahrsten Sinne des Wortes, Welten trennen.

In Bessarius und Molle schreibe ich: „Wie unser Wille unmöglich frei sein kann von Ursachen, kann unser Handeln nicht frei sein von Eigennutz. Wir können uns selbst nicht überwinden.“ (S.83, Molle an Bessarius)
In der Triebhaftigkeit aller Lebewesen liegt der Grund dafür, dass es uns schlichtweg nicht möglich sein kann, eine altruistische Handlung zu setzen, in deren Motivation sich nicht irgendeine völlig offenkundige oder zumindest von egoistischer Hoffnung genährte Absicht, oder ein fehlgeleiter Irrglaube finden ließe, selbst einen Vorteil daraus zu ziehen. Dies mag gewiss wie eine anmaßende Verurteilung eines grundnatürlichen Zuges allen Daseins klingen, vielmehr jedoch soll es die Aufmerksamkeit auf eine eigentlich selbstverständliche Sache lenken, gegen die wir uns nicht wehren können und gegen die wir uns, wie tatsächlich auch viele Menschen meinen, gar nicht wehren sollen: Dass wir unsere eigene Person, mit all ihren Wünschen, Begierden, Bedürfnissen, mit ihrem Streben nach Glück, in keiner Sekunde unseres Lebens völlig überwinden können. Im letzten Artikel sprach ich davon, dass ich die Idee der Gerechtigkeit als ein kulturelles Gut höchsten Grades betrachte. Dasselbe gilt für die Idee der Selbstlosigkeit, die aber auch mit der gleichen Unnatürlichkeit behaftet ist.
Wenn wir diese Erkenntnis einmal hinnehmen, dann sehen wir den Wert darin, an altruistischen Taten persönliche Freude zu empfinden. Es scheint gar das höchste Ideal zu sein und eine der ältesten Weisheiten, dass der Mensch der glücklichste ist, der sich daran bereichern kann, andere glücklich zu machen.

Nun will ich den Bogen nicht zu weit spannen. Wenn wir vor unserem Computer sitzen und vom Leid anderer erfahren, oder wenn wir uns eine Dokumentation ansehen über ein belastendes Thema, berührt und interessiert uns das im Moment der Aufmerksamkeit, die wir der Sache widmen. Wut, Empörung und Trauer können aufrichtige, ehrliche Reaktionen darauf sein. Da uns das Thema durch diese emotionale Reaktion persönlich mehr oder weniger schwer am Herzen liegt, kann sich daraus der Wunsch entwickeln, etwas zu verändern, um sich besser zu fühlen. Man spendet, informiert andere und beschäftigt sich in Gedanken sehr viel damit. In dieser kurzen Phase, in der auch Medien aller Art dazu beitragen, das Auge der Weltöffentlichkeit auf eine bestimmte Thematik zu lenken, entsteht ein besonderes Bewusstsein dafür. Dieses Phänomen wird wegen der Kurzlebigkeit trotzdem oft kritisiert. Man mag es bewerten, wie man will. Eines ist jedoch klar: Sobald die Menschen merken, dass ihre persönliche Betroffenheit sich nur in ihrem Kopf abspielt, dass ihr alltägliches Leben davon nicht berührt wird, sobald alle negativen Empfindungen und Gedanken verarbeitet wurden, sobald die Medienberichte aufhören und sich auch sonst niemand mehr damit beschäftigt, tut man das natürlicherweise auch selbst nicht mehr. Es hat keinen Sinn und bringt nur Streit, jemandem daher einen Vorwurf zu machen.
Ganz selten ist es, dass ein Mensch sich in der kurzen Zeit der Anteilnahme an einer ihn im Grunde nicht betreffenden Sache in einem nennenswerten Ausmaß verändert. Dies kann nur passieren, wenn die Gefühle, die in der Reaktion entstehen, besonders stark sind, und wenn die Erkenntnis hinzukommt, dass man den ohnmächtigen Willen, die Welt zu verändern, auf den mächtigen Willen konzentrieren sollte, sich selbst zu verändern.

Wir, die wir in der ersten Welt leben, sind in erster Linie dazu angehalten, unseren Konsum zu verändern. Dies bedeutet für uns immer eine Form von Verzicht auf einen der luxuriösen Vorzüge, die wir genießen. Wir sind alle an einen vergleichweise hohen Lebensstandard gewöhnt. Der Versuch, sich von erwähnten Vorzügen zu entwöhnen, beginnt im Kopf und kann nur passieren, wenn man sich nicht mit drängenderen Problemen beschäftigen muss. Das Rauchen oder den Fleischgenuss aufzugeben, den eigenen ökologischen Footprint zu verkleinern, anderen zu helfen, ernsthaft Anteil an ihrem Leben zu nehmen und ihnen beiseite zu stehen, das sind Dinge, die aus etwas hervorgehen, das ich selbst als psychischen Luxus bezeichne. Nur, wenn man frei von persönlicher Not ist, kann man sich Gedanken darum machen, was man nicht in Hinsicht auf die eigenen Probleme, sondern im Angesicht der Probleme seiner Umwelt an sich selbst verändern sollte, um schlussendlich zu der Person zu werden, die man sein will.
Ich denke, dass viele Menschen dazu im Stande wären, die selbst der Überzeugung sind, dass es ihnen unmöglich ist. Allerdings spielt es keine Rolle, was ich denke. Es ist nämlich einzig wichtig, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass wir an einen hohen Lebensstandard gewöhnt sind und dass wir uns in unserem eigenen Sinne davon befreien sollten. Denn den größten Fehler macht der, der denkt, dass dies dem Bewusstsein gleichkommt, dass wir alle ein schönes Leben führen. Die Gewöhnung an einen hohen Lebensstandard birgt ein enormes Leidpotential, birgt auch Gefahren, Abhängigkeiten und andere Krankheiten. Manche Menschen genießen den Luxus nicht, sie erleiden ihn. Und wenn in dieser Welt der eine ersaufen muss und der andere verdursten, dann sollten wir bei aller Grauenhaftigkeit nicht mehr urteilen und anklagen, sondern begreifen und verstehen.

Liebe Grüße,
Mahiat

From → Betrachtungen, Ethik

3 Kommentare
  1. wellblogg permalink

    Sehr richtig. Meiner Meinung nach ist es ein großer Misstand in unserer „modernen“ Gesellschaft, dass wir uns einem besagten Thema nur relativ kurzfristig widmen, uns zwar berechtigter Weise Gedanken darüber machen, doch am Ende versinkt alles wieder im Nichts obwohl das Thema keinesfalls beendet ist. Für uns ja, für die Betroffenen nicht. Daher finde ich vor allem den letzten Satz deines Artikels richtig, denn wir sollten aufhören uns nur in gesicherter Distanz Gedanken zu machen und stattdessen Taten sprechen lassen. Auch wenn es nur kleine sind. Ganz nach dem Sprichwort „Beginne nicht mit einem großen Vorsatz, sondern mit einer kleinen Tat.“
    Denn natürlich hat jeder seine eigenen Probleme, ob groß oder klein. Man darf sich nicht mit den Problemen anderer oder gar der Welt überladen. Das verkraftet man alleine nicht. So etwas muss klein anfangen und wachsen. Wie du schon sagtest, vor allem bei sich selbst.
    Das wir in irgendeiner Weise egoistisch handeln, da hast du ebenfalls recht. Es ist völlig normal und nur schwer, wenn nicht sogar unmöglich, abzustellen. Denn der Selbsterhaltungstrieb gestattet es uns gar nicht, uns vollends anderen zu widmen. Und wenn wir es doch tun, bezahlen wir es mit unserer geistigen Gesundheit.
    Ich selbst kritisiere auch recht häufig, so wie hier, die Misstände in der Gesellschaft. Meist bin auch ich von meiner Kritik betroffen. Ich nehme mich da nicht raus. Auch ich bin durch unserer behütete Gesellschaft in gewisser Weise geprägt und kann mich diesen Wurzeln nur schwer wiedersetzen. Obwohl… wiedersetzen ist ja falsch. Der einzig richtige Weg mit seiner Herkunft fertig zu werden und sich zu verwandeln ist es doch, diese anzunehmen und in frieden ruhen zu lassen. Das negative zu packen und es in positives zu verwandeln. – Auch wenn das verdammt schwer ist 😉

  2. Hallo wellblog, freut mich, dass du hierher gefunden hast. Danke für deine Kommentare.

    Es ist schon viel gewonnen, wenn man versucht, ganz ehrlich mit sich zu sein. Nur allzu häufig fallen wir irgendeinem Selbstbetrug zum Opfer. Dieser Selbstbetrug manifestiert sich in einem üblichen Denkmuster, von dem jeder Mensch befallen wird, der sich etwas an- oder abgewöhnen will. Da mag die Motivation oder der Grundgedanke zu Beginn noch so stark gewesen sein: Nach geraumer Zeit findet unser Unterbewusstsein einen Weg, um diese guten Vorsätze zu relativieren.

    Diese Gedanken haben oft etwas Floskelhaftes. Am Beispiel der Raucherentwöhnung:
    „So schädlich sind Zigaretten ja gar nicht.“
    „Ich bin sowieso schon zu alt.“
    „Man lebt nur einmal.“
    „Offenbar will ich gar nicht wirklich aufhören.“
    „Ich habe keine echten Vorteile durch das Nichtrauchen.“
    „Bringt ja eh nichts.“
    Besonders schlimm und Paradebeispiel des Selbstbetruges: „Ich habs ja schon so lange ohne Zigaretten geschafft, da kann ich nicht besonders süchtig gewesen sein. Offenbar bin ich nicht sehr anfällig dafür, also kann ich ruhig rauchen.“

    Ähnliches denkt in anderem Ausmaß und mit anderem Inhalt jeder, der versucht, eine gravierende Änderung an einer seiner Verhaltensweisen vorzunehmen (zb. weniger, oder etwas anderes zu essen, mehr Sport zu machen, sich für etwas zu engagieren,…). Und wenn man dann nicht völlig ehrlich zu sich ist, wenn man sich vom eigenen Unterbewusstsein verführen und belügen lässt, hat man keine Chance, sich zu ändern.
    Wenn man nicht die Kraft hat, an sich zu arbeiten, dann ist es immer noch besser, die Dinge, die man gerne abstellen würde, in dem aufrichtigen Bewusstsein zu tun, dass sie nicht okay sind. Wir wollen immer ganz zufrieden mit uns sein und gestatten uns keine Fehler, und das führt dazu, dass wir sie oft gar nicht erkennen oder uns eben einreden, dass es gar keine Fehler sind.

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