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Dialog zur freien Meinungsäußerung

02/01/2012

Person A und Person B im Dialog zum Thema „Freie Meinungsäußerung“.

[…]
A: Denkst du, B, dass das Verbotsgesetz, das ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus unterbindet, das Menschenrecht der freien Meinungsäußerung einschränkt?
B: Ich denke, es schränkt es ein.
A: Ich bin deiner Meinung. Zu klären bleibt die Frage, ob man diese Einschränkung eines Menschenrechtes als Mittel im Kampf gegen Neonazismus hinnehmen soll. Viele rechte Parteien Europas fordern die Aufhebung des Verbotsgesetzes. Wie denkst du in dieser Frage?
B: Ich stimme mit den rechten Parteien in diesem Punkt überein.
A: Ich stimme mit den rechten Parteien in diesem Punkt nicht überein. Nun, da wir verschiedener Ansicht sind, lass uns gegenseitig mitteilen, weshalb ein jeder von uns so denkt, wie er denkt, und anschließend Stärke und Gewicht der Argumente vergleichen. Möchtest du beginnen?
B: Gerne. Lass mich einen Moment nachdenken.
A: Nimm dir Zeit.
B: Ein Argument, das in meinen Augen starkes Gewicht hat, ist die Unantastbarkeit der Menschenrechte. Ob Menschenrechte unantastbar sein sollen, sei hier nicht die Frage. Es bedarf aber des Hinweises, dass du, A, dieses Prinzip in anderen Zusammenhängen gerne voraussetzt, dass du in der heutigen Angelegenheit aber eine Position vertrittst, die ihm widerspricht. Möchtest du mir gleich entgegnen?
A: Ich schlage vor, dass wir einander stets direkt antworten. Ich will mich daher, da du es erlaubst, für diese scheinbare Inkonsistenz sofort rechtfertigen. Wenn man die Unantastbarkeit der Menschenrechte voraussetzt, so bezieht man damit einen Artikel mit ein, der besagt, dass Missbrauch der in der Konvention festgelegten Rechte durch Feinde der Konvention verboten ist. Es geht also aus den Menschenrechten hervor, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung von den Nationalsozialisten, die Feinde der Menschenrechte sind, nicht missbraucht werden darf. Wer die Menschenrechte als unantastbar voraussetzt, muss auch dies akzeptieren. Der Menschenrechtsgerichtshof verweist regelmäßig darauf, wenn er Klagen von Nationalsozialisten, die sich auf freie Meinungsäußerung berufen, ablehnt. Unabhängig von der Tatsache, dass man über jeden einzelnen Artikel der Menschenrechte, und also auch über den genannten, diskutieren kann, habe ich gezeigt, dass tatsächlich kein Widerspruch vorliegt und dein Argument damit hinfällig ist. Ist das für dich in Ordnung?
B: Ja, das ist in Ordnung. Der Artikel war mir unbekannt, ich danke dir für die Aufklärung. Allerdings bin ich mit meiner Argumentation noch nicht am Ende. Ich möchte mich nun nämlich eben gegen diesen Artikel wenden und hervorstreichen, dass es eine Basis der Menschenrechtskonvention ist, dass sie für alle Menschen Gültigkeit haben soll, und dass ich daher nicht verstehen kann, wieso ein Recht, in diesem Falle das der freien Meinungsäußerung, irgendjemandem verwehrt bleiben soll, rein deswegen, weil er Gegner der Konvention ist. Wie denkst du darüber?
A: Nun, gewiss, hier hast du ein starkes Argument vorgelegt. Ich will kurz überlegen...
B: Tu das.

A: Lass mich ein wenig ausholen. Die Demokratie erlaubt die Tyrannei, wenn das Volk danach verlangt. Das ist ihre Schwachstelle. Es schadet, sich von dem Glauben nicht zu lösen, dass die Demokratie eine perfekte Staatsform ist. Versteh mich nicht falsch, sie ist wunderbar, in der Praxis hat sich nichts so sehr bewährt, wie sie. Doch umso mehr ich sie bewahren will, umso wichtiger ist es mir, offen über ihre Schwächen zu sprechen. Denn eine Schwäche der Demokratie ist es, dass sie, im Gegensatz zu anderen Staatsformen, sich offenen Angriffen preisgibt und nicht davor schützt. Es ist das Grundproblem unserer gesamten Diskussion: Gehört es zur Ablehnung von Totalitarismus, ihn zu erlauben? Wie intolerant darf man der Intoleranz gegenüber sein, ohne selbst das zu werden, was man verabscheut; ein Faschist? Im Unterschied zur Demokratie schützt sich die Menschenrechtskonvention mit erwähntem Paragraphen selbst, sie unterbindet dadurch Angriffe auf die Konvention. Ich begrüße das.
B: Warum?
A: Ich begrüße es deswegen, weil der, der sagt, dass man Totalitarismus erlauben kann, von einer falschen Voraussetzung ausgeht. Er geht davon aus, dass die demokratische Ordnung (oder die Menschenrechtskonvention) im Stande sein muss, das zu ertragen.
B: Dieser Meinung bin auch ich. Kannst du erklären, wieso du das anders siehst?
A: Natürlich. Ich denke, dass Phänomene wie die demokratische Ordnung und die Menschenrechte Vorstöße der Vernunft in einer Welt sind, deren Bevölkerung eine Gesellschaft bildet, die stets nach unvernünftigen Rechtssystemen gelebt hat, die nach wie vor unvernünftige Maßstäbe für ihr Handeln und Denken zu Rate zieht und von der im Großen und Ganzen nie allzu viel zu hoffen war, weder in Hinsicht auf eine Lösung der großen globalen Probleme der Menschheit noch in Hinsicht auf einen angemessenen Umgang mit dem Individuum in der Gemeinschaft. Ich denke, dass solche vernünftigen Phänomene daher Schutz benötigen. Wer anderer Meinung ist, geht davon aus, dass die Menschen klug genug sind, um von sich aus das Vernünftige zu erkennen, wenn das Unvernünftige sich in falschen Kleidern präsentiert. Und in der Tat: Hätte jeder Mensch genug Verstand, als dass man mit ihm eine Diskussion wie diese hier führen könnte, gäbe es keinen Grund, Nationalsozialismus zu verbieten. Doch dies ist nicht der Fall. Es ist traurig, und es tut mir weh, das zu sagen, aber es ist nicht der Fall. Wenn Rechte dies nicht erkennen, dann sind sie das, was sie doch eigentlich Linken vorwerfen, zu sein; verlorene Idealisten.
B: Was du sagst, ist wahr. Und dennoch behagt mir der Gedanke nicht, Menschen das offene Vertreten einer Ansicht zu verbieten. Ich sehe keinen Weg, dieses Unbehagen loszuwerden.
A: Ich teile dieses Unbehagen. Doch es entsteht aus der philosophischen Intuition, dass jeder Mensch mit einer Meinung auch willens ist, dir deine zu gewähren. Das ist nicht der Fall. Sag mir: Wie kann ich einem Nationalsozialisten erlauben, wofür er mich töten würde; nämlich, die eigene Meinung zu bekunden?
B: Nun, da du das Gesetz auf deiner Seite hast, musst du dich davor nicht fürchten und kannst ihm gewähren, was er dir, wenn er Macht hätte, versagen würde.
A: Und wie kann ich dafür sorgen, dass das so bleibt, wenn ich es nicht unterbinde, dass sich seine Ansichten verbreiten und dass sein Einfluss größer wird?
B: Hältst du denn so wenig vom Verstand der Menschen, dass du denkst, dass diese Gefahr nach Abschaffen des Verbotsgesetzes tatsächlich bestehen würde?
A: Ich bin unzufrieden mit dem Gedanken, dass es theoretisch möglich wäre. Tucholsky sagte, dass Toleranz der Verdacht ist, dass der andere Recht haben könnte. In diesem Sinne muss ich den Nationalsozialisten nicht tolerieren und darf ihn verbieten, wenn ich weiß, dass er falsch liegt. Wenn ich weiß, dass der Holocaustleugner Unrecht hat, muss ich ihn nicht zulassen, denn er bringt der Gesellschaft nur Schaden, nichts weiter.
B: Ach, für alles muss man Opfer bringen. Um die Freiheit vieler zu erhalten, muss man, wie es scheint, die Freiheit weniger einschränken. Auf diesem Gedanken fundiert unser gesamtes Strafsystem. Ich wünschte, dem wäre anders.
A: Das wünschte ich auch.
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